Mittwoch, 15. Juli 2009

Dein gebremstes Verlangen

Glück und Unglück haben eine Eigenschaft gemeinsam: Sie demütigen ihre Kunden.

Thomas Capulet, Vom Gück des Unwissens, Frankfurt 1997

Liebe Ulrike,

ich kann wahrhaftig behaupten, dass ich frohen Gemütes aus Berlin weggezogen bin, wobei mir selbstverständlich die Trennung, welche nun verhindert, Dein süßes Gesicht wie früher in meinen Händen zu halten, mir manche Stunde sehr erschwert. Beste Freundin, die du immer warst und immer bleiben wirst, du wirst Dich sicherlich fragen, wie es mir seit unserem letzten Wiedersehen ergangen ist, wie ich nun hier im stillen Fulda - in der Nähe der schönen Rhön – mein Leben verbringe. Natürlich arbeite ich noch in meinem alten Beruf, gleichwohl jede journalistische Lohnarbeit bedrängende Fragen, wie zum Beispiel die, was das Herz des Menschen sei, unbeantwortet lässt.
Dich zu verlassen, die ich so sehr liebe, ist mir schwer gefallen; und im Taxi, wenn kein Fahrgast meine traurigglückliche Ruhe unterbricht, höre ich immer ein altes Lied, das in der schönen Zeile „With the wheels in your heart“ mündet.
Liebste, von der ich mich unzertrennlich glaubte, natürlich bin ich trotz der mich umgebenden Einsamkeit der Ironie noch fähig – gerade bezüglich dieses Liedes, das in seiner Schlussmetapher einen durch ein verwundetes Herz rollenden Reifen erwähnt. Mein Leben rollt auf solchen Reifen davon – in einer Stadt, durch die ich des Nachts kreuz und quer fahre, mit Arbeitern der hiesigen großen Gummifabrik als Fahrgästen, allesamt trunken, allesamt auf so absichtlich kleine Weise traurig, weil sie das große Kneipenglück mit ihrem süßen Bier, das aus ihren müden Mäulern später in mein Taxiinneres dampft, nicht fanden. Ich weiß die Ironie des Schicksals zu schätzen, herzliebste Ulrike, dass sie alle tagsüber in der Reifenproduktion arbeiten, während Du weiterhin ungebremst durch mein wundes Herz fährst.
Trotzdem bin ich froh, Dein Glück, welches Du an der Seite des großen Dichters genießt, nicht zu stören, ebenfalls darüber froh, dass er auf seine alten Tage so etwas Junges und Schönes wie Dich erfolgreich umworben hat, denn beides, das ja eigentlich eins ist, erklärt mir hinlänglich meine Situation. In einer Welt des Geldes ist es mir nicht möglich, Dein Herz mir zu verdienen.
Zeitungen werden von knauserigen Verlegern geführt - auch die von Fulda. Wie du ein Monopol auf meine Gefühle beanspruchen darfst, beherrscht ein Zeitungszar mit seinen Druckereibetrieben die Gegend – und schafft damit eine Medienmonokultur.
Ich muss über meinen einen Arbeitgeber, der mich schlecht entlohnt, manchmal lachen - auch wenn das Lachen wegen der Erinnerung an Dich anderen schwer getrübt erscheinen muss; ich muss lachen, weil ich in eine so absurde Medienlandschaft hineingeraten bin, die wahrscheinlich typisch für die Provinz ist: Altbundesrepublikanischer Gutsherrenjournalismus, der eine quasi sozialistisch-totalitäre Färbung hat – aber eben ohne Gefängnis, Strafe und Wahnsinn. Mal abgesehen von mir, leben alle gut mit solch einer Situation.
Selbstverständlich berichtet auch die „Fuldaer Zeitung“ von den Spaziergängen, die Du mit dem alten Schriftsteller unternimmst. Selbstverständlich wurde auch hier sein Roman „Ein liebender Mann“, der ja eure Liebe thematisiert, ausführlich besprochen. Meine Kollegen vom Feuilleton halten ihn ja alle für einen großen Dichter und rühmen ihn in ihren Artikeln, dass das mir Herz bricht und sich die Sprache verweigert. Sie kennen nicht die Worte, zu denen ich fähig bin, wenn ich Deiner gedenke. Sie wissen nichts von den Bildern, die ich in mir trage, die Deine Abwesenheit erzeugt.
Du wirst folgendes verstehen, was ich Dir nun schreiben werde: In den Augen meiner Kollegen - wüssten sie von meinem Drama - wäre ich eine Flasche Mineralwasser, er dagegen bliebe ein Ozean. Ich wäre ein Wegwerffeuerzeug, er dagegen bliebe ein Vulkan. In ihren Augen schleudert er mit Blitzen und kämpft mit Riesen. Ich fahre dagegen am Wochenende mit einem Taxi durch eine schlafende Stadt und kutschiere Männer in die Kneipen und Bordelle. Ich weiß, dass sie alle den großen Knall suchen, den Augenblick des überlauten Selbstaufpralls erleben wollen, den kleinen Unfall, der sie einen Moment lang hinter den Mond führt, wo die Schatten warten.
Ich soll - wirst du wahrscheinlich nach der Lektüre dieses Briefes mir mitteilen wollen - zu mir selbst kommen. Doch wo du nicht bist, wirft Deine Abwesenheit einen Schatten auf mein Dasein, das zweigeteilt bleiben muss ohne Dich. Vielleicht spiele ich deswegen den Chauffeur, um mein umnachtetes Ich spazieren zu fahren? Es braucht Bewegung, wenngleich diese eine Illusion ist. Vielleicht bewege ich mich gern in einem Milieu, das rein gar nichts von Dir und den Liebesbedürfnissen der Dichterfürsten weiß? Einmal, während wir alle von der Tatenlosigkeit gebeugt auf Kundschaft am Hauptbahnhof warteten, riss ein Kollege mir das Buch, das ich gerade zur Erfrischung Deines Andenkens las, aus den Händen. „Marienbader Elegie“, las er laut vor. Es klang aber wie: „Dieter Bohlen beleidigt Beckenbauer.“ Dann sagte er: „Ach, das ist hübsch. Das reimt sich ja.“ Liebste Ulrike, versteh das nicht als Denunziation – in dem Sinne: Sieh nur den dummen, ungebildeten Taxifahrer, den Affen niederer Technik, den Analphabeten in der Wüste der Ignoranz. Man muss die Szene mit selbst zerstörerischer Aufrichtigkeit beschreiben. Ich fühlte das demütigende Gefühl der Erleichterung, dass keiner etwas von Dir und dem Großschriftsteller weiß. Hier war mein Wissen endgültig Ohnmacht. Hier war mein sozialer Abstieg für jeden, der fähig ist, Genugtuung zu empfinden, sichtbar.
Während Du in den letzten Monaten mir stets der Himmel bliebst, befuhren meine Kollegen und ich die Untergrundbahnen im nächtlichen Gewölbe, in das die Stadt nach einem Tag in ihrer hellen Kuppel versank. Manche von ihnen, liebe Ulrike, spielen dabei gerne den oberschlauen Ganoven und hamstern Fahrten ohne Uhr ein, was aber jeder – gleichgültig seines Schlauheitsgrad – tut. Ihr Getue - Resultat des Glaubens, durchtrieben zu sein - geht aber noch weiter. Manche rufen von ihrem Handy die Zentrale an und bestellen für den, der momentan als erster auf der Auftragsliste der Zentrale steht, eine Fahrt nach weit außerhalb. So werden sie auf schäbige Weise den Kollegen - beziehungsweise den Futterkonkurrenten - los.
Ihre Gespräche reichen von den früheren Zeiten, als in Fulda noch die amerikanischen Soldaten stationiert waren und man sich als Taxifahrer eine goldene Nase verdienen konnte, bis zu der redundanten, kanonisierten Taxifahrererzählung von der tollen Fahrt nach Frankfurt, Offenbach oder Erfurt. So wie es früher bei den Beduinen immer wieder Topoi narrativ leicht veränderter Erzählkultur im erlebnisarmen Raum zwischen Wüste und Lagerfeuer gab, erzählen meine Kollegen immer wieder die gleichen Geschichten: Wie es ein Pärchen auf den Rücksitz mit allerlei verdächtigem Geräusch trieb; wie sturzbesoffene Fahrgäste durch ununterbrochen aggressives Lallen den Taxifahrer in eine kurze, aber dafür umso intensivere Nervenkrise stürzten; wie man ein absolut größenwahnsinniges Trinkgeld von einem Geschäftsmann erhielt; wie man Krankenfahrten mit wirklich übel riechenden Patienten, die in asozialen Verhältnissen hausten, übernahm, weil kein krankenkassefinanzierter Krankenwagen den Käsegeruch des sich ankündigenden Todes mittransportieren wollte; wie Fahrgäste, die in ihrem wirklichen Leben am Tag als Angestellte so viel Macht haben wie ein Fussel, ihre unterdrückte Herrschsucht frei wirbelnd freien Lauf ließen und mit dem Taxifahrer um die angeblich kürzeste Route erbittert stritten; und wie man die tschechische Prostituierte von ihrer schweren Nachtarbeit nach Hause fuhr und später von ihrem Flamingozungenparfüm mehrmals träumte. Liebe Ulrike, dieser Job ist kein Abenteuer, er ist die Hölle.
Allerherzliebste! Du sollst aber kein Mitleid mit mir und meiner selbstverschuldeten Situation haben. Wie du es sicherlich schon erahnst, habe ich meine Leiden in ein überflüssiges Manuskript von beträchtlicher Länge hineingießen können. Sieh es mir nach, aber ich werde dem Konvolut, bevor ich es dem Parzeller-Verlag anbiete (der unter anderem der Eigentümer der „Fuldaer Zeitung“ ist), den Titel „Ein Mann, überfüllt von Hassgefühlen“ verleihen. So lange ich noch auf die Veröffentlichung warte, die meinen Weltruhm begründen wird, höre ich das traurige Lied in meinem Taxi, das von den Reifen erzählt, die in meinen Herzen die Spuren Deines gebremsten Verlangens hinterließen.

Dein Dich immer liebender G.

Sonntag, 17. Mai 2009

Rezension zu Gero Benraths neuem Roman

Mir liegt seit einigen Tagen ein Text vor, ein Roman von Gero Benrath (es ist - glaube ich - seine dritte Publikation), der den Titel "Die chinesische Mauer in europäischen Köpfen" trägt; und dessen Handlung ausschließlich in einer Berliner Kneipe spielt, genauer: in einer Kaschemme in der Edinburgher Straße. Ich gestehe gleich ein, dass ich Darstellungen von Etablissements dieser Art wegen des unausweichlichen Lokalkolorits von Grund auf mißtraue. Ohnehin fehlt mir der Sinn für Protagonisten, dessen bester Freund die Flasche ist. Und es macht die Sache oftmals auch nicht besser, wenn die Figuren charismatische Säufer sind. Man merkt allerdings sofort, dass Benraths Helden, obwohl beide 272 Seiten lang fast nur am Tresen sitzen und die Welt vom Himmel herabreden, zumindest keine Langweiler sind - keine im kulturen und sozialen Abseits befindliche Privatdiven, keine Nullen, die stullig und stoned ihren öden Daseinsfleck in die Wolken hinauf quasseln wollen. Der eine Mann, den wir kennen lernen, ist blond wie ein Däne und groß wie ein Schrank - und trägt einen eindeutig asiatischen Namen: Jui Sun Zi. Sein Freund ist offensichtlich - wenn ich das richtig verstanden habe - auch nicht gerade ein Hemd. Er ist spanischer Herkunft und trägt einen ebenso phantasievollen Namen aus dem fernen Osten: Li Tie Kong. Der Leser erfährt nach und nach, dass beide außerhalb des Gastschenkenkontextes bürgerliche, rein westeuropäische Namen tragen - und dass der Alkohol, den sie an jenem Freitagabend zu sich nehmen, über seine Funktion zum Rausch hinaus als Flüssigkeit gewertet wird, die Taufcharakter hat: Also, heilig sind die Tropfen, die da fließen.
Und nicht nur die sind dem Irdischen enthoben. Li erklärt gleich zu Beginn, worum es im Roman gehen wird: Um eine Theorie der Hybris. Er spekuliert entlang einer aus seiner Sicht von theoretischen Überlegungen vernachlässigten psychischen Grundordnung, die Größenwahn als affektive und gedankliche Ur-Form begreift, als morphologisches Phänomen mit hoher Verwandlungspotenz. Jede Kunst, jede Philosophie, jede Religion, jede Politik, jede Weltanschauung, so Li weiter, hat, weil sie individuell und entfernt von sozialer Kompatibilität entsteht, im Nukleus des scheinbar losgelösten, ungeeichten Ich-Individuums vorgestellte Anteile kollektiver Natur.
"Die Engel der Verkündung...", so lässt Benrath seinen Protagonisten glasklar reden, "... Oder sagen wir besser, der eine Engel, mit dem Namen Gabriel, der das erste Mal die Geschichte etwa im Jahre 4 nach Christus betritt... und irgendein schmutziges hebräisches Nest aufsucht, um einer jungen und sehr verwirrten Frau mitzuteilen, sie sei ohne geschlechtlichen Verkehr vom Heiligen Geist geschwängert worden und ... na ja, den Rest kennst du. Dieser Engel taucht 600 Jahre später wieder auf, in der Wüste bei Medina und flüstert einem Mann, der in einem Zelt haust, zu, er trage das Buch der Bücher in seinem Herzen, was auch bedeutet... ja, dass Gottes private Bibliothek ein einziges Buch zur Verfügung hat - sozusagen den ewigen Bestseller, ja... Und heute ist es so, dass jeder, wenn er aufsteht und seinen Kaffee kocht, diese Begegnung mit einer transformierten, ins Kulturindustrielle verschobenen Form eines Verkündigungsengels hat. Es gibt diesen mythologischen Gründungsakt in sechs Milliarden Haushalten, weil es nichts so fühlbar individuelles gibt wie die Prophetengestalt."
Das ist - das merkt man nach und nach - ein Schreiben entlang des Limits, welches die Nacht vorgibt, gleichwohl oder gerade weil die Gedanken den Augenblick religiöser Morgenröte einzufangen versuchen, einen Beginn, ein Erwachen intellektuell umreißen, eine Art Erwecktwerden nachzuvollziehen trachten. Vergeblich, weil die Protagonisten nicht fühlen können, was sie geistig ausführen: So wirken Benraths Figuren – je weiter der Roman voranschreitet - wie chinesische Atheisten, fasziniert vom ihnen eigentlich fremden abendländischen, präkopernikanischen Kosmos. Sie glauben die göttlichen Strahlen mit den Augen konfuzianischer Skepsis zu sehen. Und wir glauben, einen Roman vor uns zu haben, in dem eine theologische Debatte im Mittelpunkt steht. Dem ist natürlich nicht im ausschließlichen Sinne so, denn dieser Diskurs ist eingebettet in die traditionsreiche Ästhetik eines – schwieriger Begriff, ich weiß - avantgardistischen Romankonzepts, wie man es von Thomas Pynchon oder Cabrera Infante kennt; und deren Werke ja in der Nachfolge von James Joyce „Ullyses“ und aus einem sich daraus ableitenden totalen Romanverständnis entstanden waren. Und gleichzeitig ist Gero Benraths Roman eine Kritik an jene Konzepte. Gerade weil sich Benrath mit der teilweise ins Surreale verschobenen Handlung an jene Ästhetiken lehnt.
Aber vielleicht versteht der Schriftsteller seine Liebe zum Quatsch gar nicht unbedingt als U-Boot-Fahrt, welche unterhalb verbindlicher psychosozialer Wirklichkeiten führt. Mehrmals führt Benrath seine zwei Helden vor die Tür der Kneipe, offensichtlich allein zum Zweck, dass beide eine Veränderung bemerken. Staunend registrieren sie, dass sie in einer Kneipe sitzen, die „Die Taigonauten der reinen Anarchie“ heißt. Eine Stunde später heißt der Laden dann „Das Chop Suey der außergewöhnlichen Kräfte“. Wenig später nennt sich die Kaschemme „Die Brutstätte des Shanghai-Kapitalismus“. Also: Jedes Mal heißt die Kneipe anders. „Meine manchmal auftretende Unfähigkeit zum Empfinden von Glück“, behauptet einmal Jui Sun, als er erneut zum Ladenschild raufschaut, „ist dem Umstand geschuldet, dass ich alles erklären will. Ich träume viel und aufwendig, nur um mich danach mit dem Wesen dieser Träume zu beschäftigen, in der Hoffnung, eine verbindliche Aussage über mich zu erhalten. Aber ich habe zu wenig Abstand zu mir selbst – und der Bilder-Reichtum meiner Träume scheint mir mitzuteilen, dass man sich so nicht zu fassen kriegt, kein Selbstbildnis erhält, man verliert sich.“

Montag, 20. April 2009

Die neuen Waffen (1)

Montag, 20. Januar

Henry Socrates Gonzales, ein junger Mann von 21 Jahren, stand an einem milden Januartag vor dem größten Schauspielhaus Brunhagens. Er betrachtete die schöne, mehrere Karyatiden aufbietende und mit allegorischen Figuren bereicherte Fassade aus alter Zeit. Der etwa eins neunzig große und kräftig gebaute Mulatte verfiel beim Anblick beinahe in eine Art von Meditation – und merkte nicht, dass er einer etwas zwielichtig aussehenden Gestalt, die einen länglichen schwarzen Instrumentenkoffer trug, den Weg versperrte. Der Mann bedachte Henry Socrates mit einem Blick - halb vorwurfsvoll, halb seufzend – und setzte seinen Weg fort. Henry Socrates bemerkte den Waffenhändler Walter Landgut-Johannson kaum - eben weil er in Grübeleien vertieft war: Das Unterleibprickeln der Theateratmosphäre, der ichwütige Zauber der Bühne, das Weihevolle des Schauspieleregos, der Dreck der Wahrheit, der glänzende Lack der Lügen, das Spiel mit dem Körper – „mit meinem Körper!“

Eine Stimme sprach zu ihm, die einerseits eindeutig ihm gehörte, andererseits von jemanden stammte, der – wie sollte er es ausdrücken – in ihm saß; und der nicht unbedingt identisch mit ihm war. Der zigarettenrauchverschleimte Gruselalkoholikersound war ihm dabei bestens vertraut. Du wirst gleich ein Gotteshaus betreten, sagte dieser andere, in dem eine neue und nie vergehende Religion gelehrt wird – die Religion des großen F.

Henry Socrates konnte den Impuls nicht unterdrücken, sich über seine Rastafrisur zu fahren. Das Haar fühlte sich gut an. Er schaute zum sich langsam verdunkelnden Himmel herauf - und sah das grüne, kreisrunde Gebilde, das sich langsam drehte und einen Schweif hinter sich zog – das Kraftfeld der Raumschiffe der Gorgos, deren Positionslichter er ausmachen konnte. Seine Gedanken zogen ihn fort: Vor ein paar Tagen saßen bei einer Probe zwei Gorgos und ein Hregelianer im ansonsten leeren Auditorium der Schauspielschule, die in einem Gebäude schräg hinter dem Schauspielhaus untergebracht war. Alle drei trugen schwarze Anzüge anstatt ihrer Trachten - und saßen in einer der mittleren, schlecht ausgeleuchteten Sitzreihen links. Während er und sein Kollege eine Improvisationsidee ihres Lehrers Elias Baptist Omro umsetzten, die darin bestand, zwei junge ausgehwütige Männer darzustellen - was im Grunde eine Schulung im Vermeiden von Klischees war, irritierten ihn plötzlich diese drei Gestalten. Sie schienen wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Der gelassen wirkende Hundeschnauzencharakter in den Gesichtszügen des Hregelianers, das würdevoll Undurchschaubare wie gespenstisch Stille in den Sauriergesichtern der Gorgos. Henry Socrates hatte den Eindruck, dass sie extra wegen ihm gekommen waren und ihn genau beobachteten; und für einige Sekunden hatte er, was sich wegen der Bewusstseinsleere unangenehm anfühlte, keinen Zugriff auf eine Idee oder Inspiration für diese schwere Improvisation gehabt.

„Ich bin“, hatte Henry Socrates schließlich gedonnert, „wenn ich abends ausgehe, so etwas wie ein Salat.“

Für einen Bruchteil einer Sekunde schien sein Kollege Hanns-Said – jedenfalls dem Gesichtsausdruck zufolge - über diese Introduktion perplex zu sein.

„Ein Salat!“, schrie er zurück, in einem Ton, als übten sie die Rollen der jungen Männer in „Romeo und Julia“ ein. „Du meinst, wenn du abends ausgehst und all die weiblichen Schönheiten um dich siehst, hast du nur Salat im Kopf.“

„Ist es dir genehmer“, orgelte er – noch immer seiner Rolle unsicher, „wenn ich beim Anblick der Grazien lieber an Würste und Schinken denke?“

„Ah, wir kommen der Sache schon näher“, jaulte Hanns-Said und machte dazu das Gesicht eines Kabarettisten, der nun eine Kette von Launigkeiten auf das Publikum niederprasseln lassen würde. „In deinem tiefsten Innern verbirgt sich also ein Metzger, der junges Gemüse schlachten möchte. Ich habe es immer gewusst: Du bist ein Psychopath.“

„Ein solches Krankheitsbild geht nur auf, wenn der Patient über eine Psyche verfügt“, entgegnete Henry Socrates im cäsarischen Rednerstil. „Über eine Psyche – defekt oder intakt sei dahingestellt – verfüge ich nicht. Und wie ich schon sagte: Ich bin, wenn ich abends ausgehe, ein Salat. Zumindest fühle ich mich so. Frisch, zart, knackig.“

„Du redest Salat – und gehörst in eine Biotonne. Das ist das, was du mitteilen möchtest.“

„Ich gehöre eher in einen Kühlschrank, damit meine Haltbarkeit gewährleistet wird.“

So setzten beide das Spiel, das Omro in der dritten Reihe sitzend stoisch beobachtete, einige Minuten fort; und als Henry Socrates die Gorgos und den Hregelianer fast vergessen hatte, blickte er ins sanft nach oben verlaufende Auditorium. Doch sie waren nicht mehr da, was ihn so überraschte, dass er glaubte, sich ihre Anwesenheit eingebildet zu haben. Trotzdem, noch im Ton seiner Rolle befangen, fragte er:

„Wo sind die Außerirdischen?“

„Ah!“, sein Kollege holte derart tief Luft, als würde er gleich ein hohes C in den Raum schmettern wollen. „Ihr seid ein außerirdischer Salat!“

Er schaute zu Elias Baptist Omro rauf, der ohne die Miene zu verziehen ihrer Darbietung folgte. Ein Seitenblick auf die anderen Schauspielschüler, die rechts von Henry Socrates in den ersten zwei Reihen saßen, verriet ihm, dass sie die Fremden offenbar nicht bemerkt hatten. Er spielte weiter die Rolle eines aufgedrehten Jugendlichen. Die nächsten Tage ließ ihn dann die Frage nicht mehr los, was drei Bewohner eines Planetensystems, das etwa 150 bis 300 Lichtjahre von der Erde entfernt war, in einer Brunhagener Schauspielschule zu suchen hatten. Die Frage war natürlich nicht zu beantworten. Darüber hinaus hatte ihn das Ereignis – ob es sich nun um Einbildung gehandelt hatte oder nicht, erschien ihm nicht relevant – stark irritiert. Eine Irritation, die einen bemerkenswerten Energieaufwand forderte, um sie abzubauen.

„Kennt ihr eigentlich die Figuren, die ihr da darstellt?“, hatte Elias Baptist Omro schließlich gefragt. Er wirkte mit den übereinander geschlagenen Beinen und den großen Händen, die sich, als er den Satz beendete, lediglich an den Fingerspitzen berührten, auf eine gewollte Art gelassen. Henry Socrates schaute zu dem vierzigjährigen Mann rauf – und tat so, als bemerkte er ihn erst jetzt. Dieser Ausdruck kurzer Überraschung hätte sogar signalisieren können, dass Henry Socrates einigermaßen über den geschmackvollen, weinroten Pullover erstaunt war, den Omro anhatte. Omro ließ sich aber von dieser kleinen Schauspieleinlage – dieser Mini-Zugabe - nicht ablenken. Sein schmales Gesicht, das in einem spitzen Kinn endete und dominiert wurde von seiner halben Kahlköpfigkeit, zeigte Spuren von Spott und Zustimmung; und Henry war sich sicher, dass ihn die Nummer gefallen hatte, weshalb er sie beide auch ein klein wenig herunterputzen würde.

„Oh, ich kenne in Wirklichkeit nur ein einziges Bedürfnis“, erwiderte Hanns-Said mit einer provozierenden Gutgelauntheit. „Und dem trachtete ich – auch weil ihr es verlangtet, eine darstellerische Form zu verleihen.“

Omros Hände trennten sich langsam, was aussah, als würde diese Geste die Länge und Schwerkraft seines Gedankens unterstreichen: „Ihr habt Figuren improvisiert, die unvermeidlich an klassische Vorbilder angelehnt sind.“

„Nun, wir sind Schüler“, sagte Hanns-Said aufgeräumt. „Wir befinden uns noch im Prozess des Werdens.“

„Eben das ist das Problem“, die Fingerspitzen berührten sich wieder.

„Es wäre Ihnen, glaube ich, lieber gewesen“, lenkte Henry Socrates ein, wobei seine Augenlider sich fast schlossen und er die Hände nach hinten verschränkte, „wir hätten die beiden zeitgemäßer dargestellt?“

Hanns-Said ahmte Henrys Haltung nach, übertrieb sie sogar und murmelte: „Voll korrekt, Alter!“

Die anderen Teilnehmer kicherten – und auch Omro hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen.

„Ja, etwas bedürftiger und peinlicher hättet Ihr schon rüberkommen sollen.“ Er schien seufzen zu wollen. „Aber der Mensch ist mehrräumig, wie der verbotene Palast des chinesischen Kaisers.“ Er machte eine Pause – und jeder wusste, dass er gleich die Stunde für beendet erklären würde.

Manchmal liebte Henry Socrates diese Stunden, dann wieder hasste er sie – und es gab dafür einen Katalog von sich widersprechenden Gründen. Die Schauspielerei versprach – wie ja jede Kunst, dabei sich im Kleide des Propheten präsentierend - seinen Teilnehmern schmerzlich-süß Verheißungen, die in diffusen Erfüllungen mündeten: Sie ruhten beunruhigt in einem wie die Gene – und sprachen in begriffsloser, stummer Rede von etwas, dass in Ermangelung besserer Worte als Liebe, Hoffnung, Wahrheit oder Schönheit bezeichnet wurde. Aber oftmals erschien Henry Socrates dieses prekäre Spiel, unter anderem bestehend daraus, mehrere Identitäten anzunehmen, als bloßes Versteckspiel der Seele mit den Wünschen, aufzusteigen in den Himmel der menschlichen Sterne, auszukosten den Wein des Ruhmes, sich zu sonnen in den Verlockungen des Honigglanzes, der von der Prominenz ausgeht – wobei er jetzt schon die Klebrigkeit des Ganzen fürchtete, als hätte er Einsicht in seine baldige Zukunft.

Jetzt, da er vor dem wuchtig-protzigen Theatergebäude stand, würde er wieder eine Schauspiellehrstunde hinter sich bringen. In den affirmativen Charakter seiner Meditation hatten sich allerdings Zweifel gemischt, die ihn von Zeit zu Zeit befielen. Immer wieder drang in das von ihm erklärte Absolute, das die Schauspielkunst sein sollte, ein Relativismus. Eine ernste Darstellung eines Charakters, nahe der eigentlich doppelbödigen Natur des Menschen, war die eine Seite der Medaille. Die andere war der Pausenclown, dem Verlangen nach Gelächter preisgegeben. Und nichts liebt der Schauspieler so sehr, als wenn das Publikum, weil seine Bühnenhandlungen Vergnügen verursachen, vor Glück fast birst. Er liebte das Gefühl, das Publikum in der Hand zu halten, ebenfalls. Doch Henry Socrates verspürte etwas Paradoxes, etwas, das ihn dazu trieb, auf der Bühne sein zu wollen und gleichzeitig unsichtbar zu sein, als wäre er gar nicht anwesend.

Zum Beispiel gab es dieses Stück von einem gewissen Rastarette, das die Gruppe vor ein paar Monaten teilweise eingeübt hatten – und welches „Der Ernstfall“ hieß. Er mochte dieses Stück. Die Handlung war, vor allem wenn er sie Freunden nachzuerzählen trachtete, schwer wiederzugeben: In einer Szene erblickte man beispielsweise, wie ein Astronaut auf dem Mond spazieren geht. Die graue, musiklose Wüste beschienen von der Sonne, der All-Himmel von einem dichten, sich der Sprache verweigernden, sternenlosen Schwarz. Und der Mann in diesem Astronautenanzug – das begreift der Zuschauer langsam - scheint den Eindruck zu haben, als sei er hier ohne Raumkapsel. Ein magischer Zufall muss ihn auf die Mondoberfläche katapultiert haben. Schwer atmend teilt er dem Kontrollzentrum in Houston mit: „Ich möchte tanzen.“ Mehr nicht. Man hört ein langes Schweigen, bis er den Satz wiederholt – und er kommt schwer rüber, wie ein endgültiges Bekenntnis. Ja, es klingt, als sagte er „Ich möchte sterben.“

Omros hatte zusammen mit einem Bühnenbildner die Bühne in zwei Abschnitte geteilt: Rechts die Mondlandschaft, links das Kontrollzentrum – und die Mitarbeiter in Houston erstarren bei dem Satz „Ich möchte tanzen“. Sie erstarren vor einer unheimlichen Wahrheit, die größer als der menschliche Verstand ist. Ganz leise, gespenstisch dezent erklingt aus dem Hintergrund einer der berühmten Titel aus der Discozeit. Aber auch diese Musik begreift man nicht mehr. Sie klingt wie eine fremde, piepsige Sprache. Henry Socrates hatte als Darsteller des Astronauten, der den irdischen Boden aus Lettern verlassen hatte, um einen unendlichen Raum der Leere zu betreten, einen Augenblick lang geglaubt, begreifen zu können, dass es so etwas gab wie das Wort, welches alle Wörter beinhaltete; und sie gleichzeitig – bei ihrem Entstehen sozusagen - auslöschte. Und er hatte während der Proben an dem Stück gesehen, wenn er seiner Beobachtung denn trauen konnte, wie Omro einerseits darauf gedrängt hatte, allgemein verbindliche Verständlichkeit zu produzieren, andererseits aber er - als Regisseur - in Abständen die Aussage in etwa durchsickern ließ, dass die Frage, wen kümmerte das hier alles, durchaus unbeantwortet bleiben durfte.

„Wer hat jemals in jenen leeren Raum, den wir das erste Mal betreten, ein Wort fallen lassen“, sagte eine Figur im Kontrollzentrum in Houston – es ist das Jahr 1969, „geschweige denn eins gehört, das zu den Sprachen gehört, die vor und nach dem göttlichen Dekret von Babel vom Zinnenkranz wie von den Zungen sprangen? Selbst das Schweigen des raumlosen Raums ist nach menschlichem Ermessen nicht das Schweigen nach dem Ausfall der Sprache. Wer hat in diesem Raum - frage ich - jemals die Stimme erhoben, so wie wir es dann unten im Irdischen glaubten, vernommen zu haben, dass es eben seine ist? Seine Stimme. Jetzt stellen wir lediglich fest, dass er schweigt. Und müssen uns fragen: Schweigt er deshalb, weil wir uns unbefugt Eintritt in seine Gemächer erlaubt haben? Oder ist er aus einem Schreck heraus, weil die Verwirklichung technischer Möglichkeiten sein diesbezügliches Monopol verletzt, verstummt; und lässt alles in Schwärze und Weite erstarren?“

„In diese erhabene Gleichgültigkeit hinein erfasst der Blick des Astronauten eine Figur am Mondhorizont. Sie kommt langsam auf ihn zu. Er dagegen bleibt stehen und stellt fest: Äußert sich das Staunen in einem, nimmt man zunächst eine schwache Resonanz wahr, die dem Entstehen des Staunens inne liegt. Doch das Staunen versteinert. Die Figur, die auf ihn zukommt, hat offensichtlich mit der Schwerelosigkeit keine Probleme. Sie geht ein wenig wie der Erdenbewohner auf seinem heimatlichen Planeten. Sie trägt einen Raumanzug, der blau und silbern ist, der Helm schmal - von der Form her wie ein vertikales, menschliches Auge. Das Sonnenlicht schillert kalt auf dem ovalen Sichtfenster, so dass er das Gesicht seines Gegenübers nicht erkennen kann. Er fühlt sich von dem wohl Grundlegendsten, das dieser Situation entspringt, geblendet. Dann bleibt die Figur stehen, gerade mal zwei Meter von ihm entfernt. Und er sieht das erste Mal die ernsten Züge der Eidechse des Gorgo, sieht seinen misstrauisch prüfenden Blick.“

„Das ethische Prinzip dieses Stückes ist“, hatte Omro einmal gesagt, „das sich jede Ethik in die unendliche Weitläufigkeit der Leere verliert. Das bedeutet nicht“, so er weiter (sie standen alle auf der Bühne, umringten den Mann, der so gerne durch und durch Lehrer war), „dass sich die bekannten Kategorien von Gut und Böse einfach aufgelöst haben.“

„Schön und gut“, hatte Henry Socrates erwidert und seinen Helm abgenommen, „aber in diesem Ding schwitze ich wie in einer Sauna.“

Leises Gelächter, Omro verzog seinen Mund zu einem dezenten Lächeln säuerlicher Ironie.

„Und das ist eindeutig Ethik“, erklärte Henry Socrates.

„So?“, murmelte Omro in Fagotttonlage. Es sollte bedrohlich klingen.

„Ja, das ist nämlich eindeutig schlecht.“

Wieder leises Gelächter aus dem Rund. Der Mann in der Mitte sah seinen Schauspielschüler traurig an.

„Es ist ja auch kalt da draußen im Weltraum. Sogar sehr kalt.“

„Im Theater ist es aber bullig warm.“

Henry Socrates, der noch immer vor dem Theatergebäude stand und dem langsam unter dem Eindruck der sich abkühlenden Atmosphäre die Bilder der Erinnerungen einfroren – auch er selber fing an zu frösteln, erinnerte sich daran, dass er morgen den berühmten Hollywoodschauspieler R. für das Magazin „X und X“ interviewen würde – und dass er seinen Staatsdienst im „Paradies der Hundertjährigen“ fortsetzen musste. Etwas Zeitgenössisches durchdrang ihn bei den Gedanken um den Star, mischte sich mit Vorfreude und Nervosität. Des Schreibens mächtig schien seine innere Apparatur zu sein und einen Teil seines Körpers – vielleicht ein Organ? - in einen Zettel oder in eine virtuelle Bildschirmfläche zu verwandeln. Er konnte das Geschriebene nicht entziffern – und ging hinein zu den Proben.

Donnerstag, 5. März 2009

Strand der Schuld, Wald der Sühne

Die Motorboote hinterließen einen glitzernden, fetten Schweif weißen Meeresschaums auf der Wasseroberfläche, während sie auf die Schiffe in leichter Schräglage zurückbrummten. Wir standen mit unseren Ausrüstungen am Strand, blickten ihnen hinterher, dann machten wir uns auf dem Weg, der uns durch unwegsames Waldgelände führen würde. Ich strich überprüfend über den ledernen Brustpanzer, rückte meinen spitzen Helm zurecht und fuhr mir über den Vollbart. In der Ferne meinte ich Karavellen zu sehen, über die schwarzer, vernichtender Rauch hing. Ich drehte mich in Richtung der Kameraleute, setzte den melancholischen Blick des erfahrenen Anführers auf und setzte mich an die Spitze des etwa vierzig Mannes starken Zuges.
Sich durch das Dickicht zu schlagen, war eine Herausforderung. Die Landschaft war dicht bewaldet und hügelig, ja bucklig, so dass es dauernd auf und ab ging. Bald keuchten und stöhnten wir. Ungewöhnlich anstrengend war dies alles, ja. Und wir scherzten über die ungewöhnliche Belastung, der wir uns freiwillig verschrieben hatten. Man hörte die Affen bewundernswert seltsame Laute formen, die Vögel in fremden Tonfolgen zwitschern. Ich schaute von Zeit zu Zeit auf die Karte, die uns vom Strand der Schuld in den Wald der Sühne brachte. Die kartographische Zeichensprache der Karten erinnerte in ihrer Grobheit eher an die Schatzinselkarten unserer Kindheit – trotzdem, sobald eine Kamera auf uns gerichtet war, nahmen wir die Requisiten und Rollen ernst.
Ich erinnerte mich öfter als mir lieb war an eine Begebenheit, die sich in der Fußgängerzone meiner Heimatstadt abgespielt hatte. Kurz vor meiner Abreise hatte ich eine meiner Exfreundinnen, Tanja, mit einem Kinderwagen unvermeidlich auf mich zukommen sehen. Ihre freien Glieder unter der Sommerkleidung dünndrahtig, das Gesicht mütterlich knochig, ein fieses egoistisches Glück ausstrahlend. Ich hatte ihr nicht entkommen können, musste mich mit ihr unterhalten und machte den Fehler, meine Absichtslosigkeit in der Gesamtheit des gesellschaftlichen Daseins in irgendeine Weise vor ihr anzudeuten – eine Redeweise, die sie offenbar dazu einlud – ganz typisch für sie, die Waffen psychoanalytischen Vokabulars auszupacken.
Wir hatten mal ein heißes Verhältnis gehabt; ja, aber wir hatten auch einen Zustand gegenseitigen Vertrauens mal erreicht, hatten uns wie Sardinenbüchsen gegenseitig geöffnet und unser öligen Inhalte gezeigt, was jede Form von Nacktheit mit der Zeit überbietet. Wir hatten unsere Neurosen in unzähligen offenen Gesprächen, in die die Nacht schläfrig eingesickert war, im naiven Geständniswahn auf den Tisch mit der Kerze und den Weingläsern ausgebreitet.
Und natürlich kamen die Eltern darin vor, die bösen Gestalten des Ich-Theaters, und die Obsessionen, die ewige sexuelle Fehltreterei des Mannes, die abschließende Vernunft der Frau, zwei junge Leute, von unterschiedlichen Gewalten auseinander gerissen. Wir hatten uns durch Täler unsrer Psyche gearbeitet, Tränenbäche verursacht, waren durch den Regen und die Einsamkeit unserer nie aufhörenden Vergangenheit in einer selbst erhöhenden Weise gegangen und hatten schließlich den unsichtbaren Gespenstersäugling unserer allmählichen Entzweiung gezeugt. Und jetzt begegneten wir uns nach zwei Jahren auf der Fußgängerzone. Das atemlose Keuchen der Herrschsucht in uns.
Da erzählte ich ihr von dem Strand der Schuld und dem Wald der Sühne, in die ich meine Getreuen führen würde. Und weil das Fernsehen über eine biblische Macht verfügt, blieb Tanja, die mit ihrem Mann außerhalb meiner Reichweite im Süden lebte, nichts übrig, als mein in ein öffentliches Unternehmen eingebettetes Vorhaben als Chance zu werten. Die Erinnerung an das Gespräch und der Geschmack der Beziehung ließ tolle Stürme in mir entstehen, die mich manchmal durch den Dschungel vorantrieben. Das silbrige Aufblitzen des Metalls der Machete, das zornige Summen der Moskitos, die von der Anstrengung gezeichneten Gesichter, der unfertige Opern- und Filmstoff mit seinem starken emotionalen Gehalt. Ich brauchte etwas. Was es hätte sein können, weiß ich nicht. Eine Substanz ganz sicher.
Das Drehbuch sah vor, dass wir am zweiten Tag unserer Reise das Dorf der Autochthonen erreichten. Sie wirkten entschieden unindianisch. Ihre größtenteils entblößten Körper vollkommen blau oder grün angemalt, was einen äußerst befremdlichen Eindruck hinterließ. Wir waren ein wenig verwirrt, weil diese Ureinwohner keineswegs instruiert wirkten; und sie sich uns auch zunächst in einer nicht einzuordnenden Weise näherten. Ich gab einen der Offiziere Befehl, mit der Muskete in die Luft zu schießen, was sie aufgeschreckt davonlaufen ließ. Erst nachdem wir uns in ihren Hütten eingerichtet hatten, kehrten sie zurück und näherten sich uns furchtsam. Die Kommunikation erwies sich als schwierig, wir verstanden einander überhaupt nicht. Sie boten uns zaghaft etwas zu essen an. Was wir identifizieren konnten, nahmen wir an, was die gegenseitige Befangenheit etwas aufhob. Übrigens aßen sie kleine, lebende Frösche. Ein Anblick, der uns faszinierte. Niemand von uns wollte allerdings eine Kröte ausprobieren. Bevor es dämmerte, entdeckten wir Holzkäfige, wo sie die Insassen gegnerischer Stämme gefangen hielten. Es schien nicht ratsam zu sein, sie zu befreien. Wir merkten, dass unsere Gastgeber in dieser Angelegenheit keinen Spaß verstanden.
Natürlich hatte uns die Produktionsleitung gesagt, dass es durchaus wünschenswert wäre, wenn einige von der Crew sich verlieben würden. Ich hatte jedenfalls ein Auge geworfen auf die Argentinierin Paquita. Sie hatte zwei unglaubliche Tattoos. Auf jeder Leistenseite sah man einen Revolver, deren Läufe auf den Eingang ihres Geschlechts zielten. Am nächsten Morgen schauten sich einige von uns die Aufnahmen der letzten Nacht an. Die Szene wirkte harmlos. Man sah Schemen, Schatten, Umrisse. Man hörte uns, wie wir uns küssten und ein wenig seufzten. Die Nachtgeräusche des tropischen Waldes um uns.
Der nächste Tag, wir zogen weiter, flach das Land, riesige Bäume, die den Himmel kitzelten. Durch die Lücken der Kronen brach milchiges Licht durch. Westlich unseres Weges, gut sichtbar, ein schlammfarbener, stiller Fluss. Die verstörende Schwüle – und der Körper, der gegen die hohe Luftfeuchtigkeit ankämpfte. Das Gefühl der Gefangenschaft des Körpers, unsere schwere Ausrüstung, unsere Kampfbereitschaft, die Kamera richtete sich einmal auf mich, ich zog langsam das Schwert aus der Scheide, das herrliche Geräusch des Metallkontakts rief für einen Bruchteil das Bild eines Engels in mir hervor. Ich streckte den Arm mit dem Schwert aus, halb hoch. Mein entschlossenes Gesicht in der Hitze des Tages. Die Kameralinse halblinks von mir, dahinter einer der Kameramänner, die Grammatik der Bilder, die gerade entstanden und jetzt zu sagen schienen: „Ich sehe ihn.“
Ich sah mich auch – später – aus der Perspektive einer Kamera, die zunächst die schwarz glänzenden Schuhe aufnahm, wie sie über das Parkett gingen. Die schönen Geräusche dabei: Das Knarren des Holzes, das dumpfe und dunkle Seufzen des Schuhleders. Dann stand ich am Fenster, das auf eine Gasse herausschaute, verschränkte die Arme, die Haare schulterlang, ein Stück Musik meines Körpers, ich trug noch keinen Bart, die sanfte mitteleuropäische Sonne im Fensterausschnitt. Die unfreiwillige Erinnerung, und als ich in Paquitas Gesicht schaute, die Wangenknochen, der erschöpfte Blick, der Mund, der mit dem Durst kämpfte. „Was ist?“, fragte sie böse.
„Denn so erzählte eine Stimme in mir folgende Geschichte“, teilte ich ihr leise mit. Die Kameras näherten sich uns, eine nahm meine Lippen auf. „Als Romero noch als Taxichauffeur arbeitete, hatte er einmal zwei betrunkene junge Männer als Fahrgäste gehabt. Der eine war so besoffen gewesen, dass er anfing zu delirieren. Er sah fürchterliche Gestalten in der Fünfuhrhelligkeit, durch die das Mercedesauto fuhr. Die Fratzen schrieen – und er schrie zurück. Er behauptete, Romero würde einen Umweg fahren, und öffnete während der Fahrt die Tür. Man erzählte mir, dass Romero…“
„Und Romero, das bist du“, unterbrach mich Paquita. Der Mund verzog sich spöttisch.
„… den Wagen anhielt“, flüsterte ich weiter (und mein Flüstern war Gesang. Die einsame Küste – und ich sang leise ein Lied) „und, alle drei standen draußen, den Schreienden beruhigen musste. Das sei die richtige Strecke. Wenn er Romero nicht glaube, dann brauche er nicht zu bezahlen. Die fünfzehn D-Mark Verlust könne er an einem Sonntagmorgen verkraften. Der Fahrgast beruhigte sich, Romero brachte ihn nach Hause. Die Arroganz des Delirierenden, der den Taxifahrer mit zehn Mark abspeiste. Sein Freund war allerdings noch schlimmer. Während der Fahrt hörte er nicht auf, zu betonen, wie leid ihm doch Taxifahrer täten. Zehn Minuten ging das Bedauern – ohne Unterbrechung. Die leeren Straßen, der Schlaf der Stadt – und ein betrunkener Mann, der mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe des Abends keine abgekriegt hatte, säuselte mit unglaublicher, ihm nicht bewusster Bösartigkeit sein Mitleid in das Innere der C-Klasse. Der Wagen verwandelte sich im Nu in ein kleines, trauriges und schmutziges Bordell. Romero war eine Hure des Morgenasphalts, ein Asthmaanfall der Lust. Er begriff.“
Ich schloss die Augen. Nach ein paar Sekunden fragte Paquita: „Was?“
„Dass der Zorn ein prächtiger Palast ist, der aus einer Lichtung hervorschaut.“
Ich öffnete die Augen und sagte ihr im normalen Tonfall, laut den Karten müssten wir morgen die Hauptstadt der Eingeborenen erreichen.
Dem war auch so – und wir staunten nicht schlecht über den Aufwand, den die Produktionsfirma bei der Errichtung einer kompletten Aztekenstadt betrieben hatte. Schon als wir die Außenbezirke erreichten, strömten Leute aus ihren Hütten, unterbrachen ihre Arbeit und umzingelten uns, wobei sie alle auf einmal zu sprechen schienen. Jedenfalls, das war ihren Gesichtern abzulesen, schienen sie über unsere Anwesenheit erfreut zu sein. Wir – und ich glaube, unsere Empfindungen waren da synchron – fühlten uns wie ein berühmtes Basketballteam; und um uns ein Meer aufgeregter Fans, das nach Autogrammen verlangt. Schließlich begleiteten uns halbnacktre Soldaten – oder vielleicht waren es Polizisten? – in die Innenstadt. Sie trugen Lanzen, deren Spitze goldfarben leuchtete. Auffällig war ihr grauweißblauer Federschmuck, der ihre Wichtigkeit unterstrich.
Kurz bevor wir in den Kern der großen Stadt vordrangen – noch immer staunend über die hohe Anzahl an Komparsen; diese Dimensionen erinnerten regelrecht an Hollywood. Die Fernsehgesellschaft XBT, die uns engagiert hatte, musste ein Stadtteil von Mexiko-City rekrutiert haben – sahen wir schon die vier unterschiedlich großen Stufenpyramiden; und um sie herum Paläste und Tempel. Wir näherten uns also dem Stadtteil der Reichen und Mächtigen.
Die Menschenmenge begleitete uns zu einem großen, flachen, sandfarbenen Haus - mit einem herrlichen rot gekachelten, teilweise mit Pflanzen bedeckten Innenhof und frugalen, aber kühlen Gästeeinzelzimmern. Jeder von uns musste für einen Augenblick allein sein. Wir ruhten ein wenig aus, duschten dann kalt, zogen uns um und bereiteten unser Abendessen mit besonders guter Laune vor, eben weil dieser Empfang uns so begeistert hatte. Die Spaghettis, wie sie dampfend in das Sieb rieselten, die zwei Tomatensaucen, wie sie im Kochtopf brodelten, der mit Holzscheiten gefütterte Herd, der mitgebrachte Rotwein, wie er die Gläser füllte: All das nahmen die Kameras auf, als seien diese Handlungen etwas einzigartiges, wertvoll, archetypisch. Ich habe die Aufnahmen ja später gesehen: Die Wackelbilderdokuästhetik verleiht dem Ganzen einen Kunstcharakter.
Der frühe Morgen warf sein Licht über die Stadt umgebenden hohen Berge. Wir zogen in voller Ausrüstung durch die noch schlafende Stadt. Die wenigen Leute, die wach waren und uns sahen, erschraken über unseren martialischen Auftritt. Unsere Ausrüstung gab diesen bedrohlich schweren Metallklang von sich. Einige liefen davon. Ich erinnerte mich an Tanja, mit der ich etwa ein Jahr lang zusammengewohnt hatte. Sie hatte einmal, als wir in der Küche unser Abendessen vorbereiteten, einen Katalog möglicher Aktivitäten munter aus ihrem Mund sprudeln lassen. Wenn man all ihre Forderungen übersetzte, lauteten sie: Geh hinaus, jag den Säbelzahntiger und den Mammut, ich warte hier in der Höhle auf dich, erziehe die Kinder, koche das Mahl, nähe die Felle zusammen – in der Nacht haben wir dann Sex.. „Schlechter Plan“, dachte ich.
Das Innere des Tempels, den wir schließlich aufsuchten – unbeschreiblich der Ekel, der uns überfiel. Die steinernen Wände und grässlichen Götzen waren beschmiert worden mit einer Flüssigkeit, von der wir annahmen, dass es Blut sein musste. Dieser furchtbare Braunton, den die getrocknete Substanz angenommen hatte und der an Fäkalien erinnerte. Der widerliche, süß-faulige, durchdringende Mülldeponiengeruch. Einige von uns mussten sich übergeben. Das Dunkle, Verschattete des Tempels, der keine Fenster hatte, dafür zwei quadratische Dachöffnungen, die genau hinter dem Chefmonstergötzen etwas Morgenlicht hereinließen, was den schrecklichen Eindruck verstärkte, dass diese Götter auf das Leben der Menschen hungrig waren. Unser Ekel, unsere Wut, unsere Entschlossenheit, das alles zu zerstören.
Am Nachmittag kamen ein paar Männer in unser Haus. Sie trugen feine, graue Anzüge, aber ihre Gesichter waren die von Bubis. Sie hatten allerdings keine Schwierigkeit, besonders männlich aufzutreten – und ergo selbstbewusst zu wirken. Mich erinnerten sie eher an jenen Typus von Medienyuppies, den es überall auf der Welt gibt – und den ich immer ein bisschen verachtet habe. Diese waren eine mexikanische Version davon. Begleitet wurden sie von einem hageren, würdig aussehenden Indianer. Sie erklärten, das sei der Schauspieler, der den gefangenen Aztekenkönig darstellen würde – und nachdem sie sich mit uns ein wenig geplaudert und etwas getrunken hatten, verschwanden sie. Wir gaben dem freundlichen König, der etwa Mitte vierzig sein musste, ein Zimmer. Und nach dem Mahl, das er ohne uns einnehmen musste (er war ja schließlich unser Gefangener), unterhielt ich mich mit ihm im Beisein von zwei Kameramännern und der hübschen Dolmetscherin. Ich weiß nicht, ob er seine Rolle so spielte wie vorgesehen, denn er erzählte von seinem Leben vor der Amateurschauspielerei. Vielleicht übersetzte das junge Mädchen auch schlecht.
Jedenfalls berichtete er, dass er vor seinem Königsdasein Reporter einer Internetzeitung in Mexiko-City gewesen sei. Unter anderem sei das Besondere an dieser Zeitung gewesen, dass der Chef einem Tick gefolgt sei. Ihm hätte der richtige Sound einer Redaktion gefehlt. Das Klackern der Tastatur und das Handyläuten hätten in seinem Sinne keine originale Geräuschkulisse einer arbeitenden Zeitungsredaktion abgegeben. Deshalb habe er Lautsprecher an die Wände montiert, aus denen dann leise das Klappern von Schreibmaschinen, das Telefonläuten alter Apparate und gelegentlich beschäftigt wirkende Stimmen rieselten.
Ich war ein wenig irritiert über die Anekdote und erinnerte ihn daran, dass er ein Gefangener der spanischen Krone sei. Doch nicht in echt, entgegnete er lächelnd.
„Solange diese Kameras auf uns gerichtet sind, ist alles echt“, sagte ich mit Nachdruck. „Megaecht!“
Mit der hübschen Dolmetscherin flirtete ich nachher im Innenhof. Ich hatte während der Verhandlungen mit dem Reporterkönig – so nannte ich ihn nun - eigentlich nur an sie gedacht. Paquita beäugte uns. Ich konnte ihr ansehen, dass sie eifersüchtig war. Wenn ich behaupte, ich hätte nicht ahnen können, was uns am nächsten Morgen erwartete, so entspricht das nur zum Teil der Wahrheit, denn ich kannte ja das Drehbuch. Doch das der Aufstand der Einheimischen so gewaltig sein und sich gegen ihren eigenen König richten würde, hatte ich – was die Dimension der Gewalt angeht – nicht erahnt. Zunächst hatten wir die Menge mit gezielten Musketenschüssen davon abhalten können, unser Haus zu stürmen. Jedoch war der heftige Ausbruch des Aufruhrs dadurch nur aufgeschoben worden – und als die Wut der Leute zunahm, sahen wir uns gezwungen, den König aufs Dach zu bringen, damit er von dort aus sein Volk beschwichtigt. Doch erstaunlicherweise bewarfen sie ihn mit echten Steinen, was mir wie nicht abgesprochen erschien. Er wurde verletzt – und als wir ihn in seinem Zimmer verarzteten, heulte er. Aber die Leute hatten sich offensichtlich abreagiert. Außer ein paar grimmigen Soldaten – jeder von ihnen mit diesem prächtigen Federn geschmückt - war draußen niemand.
Bis dahin mein Bericht. Morgen werden wir in Flössen über die Lagunenanlage aus der Stadt flüchten. Unsere Taschen sind prall gefüllt mit falschem Schmuck und noch falscherem Gold. Wie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine kleine Seeschlacht auf den großen Lagunensee verwickelt werden. Wir sind dementsprechend aufgeregt – aber auch ein wenig von den Strapazen erschöpft. Ich erhielt am Abend einen Anruf von dem Produktionsleiter, der erklärte, dass die Zuschauerquote erfreulich rauf gegangen sei – und er ergänzte, eine Frau habe mehrmals angerufen, um mir mitteilen zu lassen, sie sei sehr stolz auf mich.

Unter dem Himmelsdach des Gegenpapstes

Sicherlich, auch diese seit Monaten andauernde Auseinandersetzung zwischen den Truppen des Gegenpapstes und den alliierten Verbänden kann man als einen ganz gewöhnlichen Krieg bezeichnen. Und während ich in letzter Zeit morgens mein Brot in die Zinktellermulde mit der Milch stippe, denke ich häufig, von außen betrachtet ist dieses von aristokratischen Gehirnen ausgeklügelte Hauen und Stechen nichts anderes als die Ritterrüstungsbegegnung vor den florentinischen Stadtmauern oder der Grabenkrieg vor den zerschossenen Toren der belgischen Kleinstadt Ypern. Doch jeder Krieg ist anders, kennt andere Mütter, andere Väter, andere Brüder.
Man wird mich wahrscheinlich für wunderlich halten (oder auch nicht), gerade weil ich erzählen möchte, dass ich diesen Krieg in vielerlei Hinsicht für besonders interessant halte. Das ist dann erläuterungsbedürftig. Zum Beispiel verursacht der Krieg, an dem ich – nüchtern betrachtet - nur peripher teilnehme, Störungen der Befindlichkeit, die ich für wert betrachte, aufgezeichnet zu werden. Alles geht rückwärts – so auch mein Empfindungsapparat, von dem ich annahm, er sei vernunftgesteuert. Und auch die Uhren scheinen ihre Drehrichtung geändert zu haben.
Morgens, nach gerade mal vier bis sechs Stunden unruhigem Schlaf, verspüre ich zwar in letzter Zeit den schmierigen Wunsch, als Soldat zu kämpfen, sogar in der vordersten Reihe, und den Heldentod zu sterben, obwohl ich weiß, dass es keinen Heldentod gibt. Aber das ist nicht eine Folge der Regression, die mich umgibt. Die Realität scheint wie ein Spiegel, den ein Stein getroffen hat. In den Scherben sehe ich das gedämpfte Kerzenlicht einer Abendmesse. Eine Erklärung für den Wandel fällt mir einigermaßen schwer.
Ich bin der Arzt Osorio Camaphen, ich kämpfe um das Leben der im Lazarett schwer verwundeten Soldaten. Bei dem Anblick in dem großen Zelt mit seinen zahllosen Betten und den weißgewandeten Krankenschwestern ertappe ich mich bei ungewöhnlichen Gedanken. Das Nicht-Leben als Vorhandensein innerhalb des Daseins muss ein Möglichkeitsprodukt des Teufels oder eines Gottes sein. Früher habe ich selten so etwas gedacht, da bin ich mir sicher. Vielleicht bin ich von dem um sich greifenden Katholizismus aber schon längst infiziert.
Dieser Krieg hat in zweierlei Hinsicht etwas Absurdes. Zu Beginn mutete er – nun ja, das Bild ist etwas extravagant, das gebe ich zu – wie ein Pinguin an, der vor einem Supermarkt steht und dir, gerade weil du zufällig und arglos an ihm vorbeigehen willst, eine Ananas mit den Worten andreht, dies sei eine goldene Statue des Gottes der Tolteken. Jetzt scheint dem Krieg jede weltliche Note genommen worden zu sein, als wäre er aus einem Kreuzgang heraus zum Lobe Gottes entschieden worden.
Vor ein paar Monaten hatte der Präsident der UNO noch erklärt, dass dieser Krieg deswegen notwendig sei, weil er jeden Teilnehmer in ein moralisch überlegenes Wesen verwandeln würde. Aber was er natürlich gemeint hatte, war, dass der Krieg dazu diente, dass die Überlebenden sich eine goldene Nase verdienen könnten. Deswegen habe ich den Dienst angetreten. Jetzt scheint in das Kriegsgeschehen die – jedenfalls von mir bisher unterschlagene – überirdische Glorie Jesus’ hineinzuleuchten.
Das eben Angeführte erklärt jedoch nichts.
Vielleicht erklärt der Umstand, warum der Gegner sich auf einen Mann beruft, der sich als Gegenpapst bezeichnet, etwas besser die Gründe dieses Krieges. Der Papst ist als solches keine politisch bedeutende Gestalt mehr wie zu früheren Zeiten. Könnte man meinen. Doch jetzt sitzen wir hier – immerhin Teilnehmer aus mehreren Nationen, in diesem georgischen Morast und kämpfen gegen die Truppen von einem Mann, der sich selbst als der Gegenpapst bezeichnet.
Ich und meine Kollegen haben unterschiedliche Theorien dazu entworfen.
Theorie Nummer eins besagt, dass der Name Gegenpapst ein Produkt der Medien ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist er eine schlaue Erfindung einer Nachrichtenredaktion. Nachdem die muslimischen Terroristen sich selber zu Selbstmörderasche gebombt hatten, musste für den georgischen Aufstand ein neuer Name her. Und da der Anführer bisher völlig unbekannt blieb - er hat weder Gesicht noch Namen, gab ihm die Kreativabteilungen eines Fernsehsenders die zündende Bezeichnung: Der Gegenpapst.
Der Theorieentwurf Nummer zwei geht davon aus, dass wir die Rolle des Papstes beim Weltpoker um die Verteilung der Güter und höheren Dinge vollkommen unterschätzen. Wenn es also einen mächtigen Strippenzieher im Vatikan gibt, der nach außen hin wie der Engel der Weisheit wirkt, muss es einen ebenso mächtigen Gegenspieler geben. Dieser muss für die Majorität der Menschheit im Finsteren oder zumindest Unsichtbaren hausen, um von dort aus sichtbare Dinge in die Wege der unterschiedlichen Weltwirklichkeiten zu leiten. Die These kommt natürlich denjenigen entgegen - das war mir und meinen Kollegen klar, die einen Hang zu Verschwörungstheorien haben. Wir klammerten allerdings diesen Aspekt aus – und vertieften die Problematik. Es kann ja nicht sein, dass der georgische Gegenpapstes mit seinen bis in die Haarwurzel motivierten Rebellen nur deshalb eine Armee, die sich aus den Kontingenten mehrerer Nationen speist, in Atem hält, weil es ihn nicht gibt. Es muss ihn geben. Existiert er nicht, dann ist selbst der Präsident der UNO eine von Fernsehstationen erdachte Figur.
Die dritte Theorie finde ich ebenfalls einigermaßen beunruhigend. Wir meinen zwar in einem Zeitalter zu leben, in dem alle technischen Errungenschaften um uns herum funktionierend und dienend summen, piepsen, blinken und leuchten. Der Apparatursegen ist aber im Großen und Ganzen eine Täuschung. In Wirklichkeit leben wir noch zu Zeiten der mächtigen Päpste und ihrer Gegenspieler. Wir haben uns seitdem nicht vom Fleck bewegt. Unsere Technik erweist sich als Illusion. Und wir behandeln diese wie ein Bild aus der Realität.
Selbstverständlich verfügen solche Debatten, die während unserer gemeinsamen Brotzeiten mit Verve geführt werden, bei aller Erkenntnishelligkeit auch über dunkle Flecke. Und sie sind nur Hypothesen. Wie mir später erst auffiel - ich war gerade dabei, eine Verwundung eines Patienten mir anzuschauen, der sich erfreulicherweise auf dem Wege der Besserung befand, hatten wir bei der Erstellung der letzten These den Katholizismus nicht miteinbezogen. Und ich fragte mich plötzlich, was das eigentlich sei?
Natürlich weiß ich, was der Katholizismus ist, wenngleich ich nicht weiß, wie er sich anfühlt. Meine nun schon recht betagte Mutter ist beispielsweise Katholikin – und gelegentlich erzählt sie mir, dass sie ein wenig in der Bibel läse und sogar bete, was mich jedes Mal ein wenig überrascht (Vor mir hat sie sich nie zu religiösen Handlungen hinreißen lassen). An jenem Nachmittag fiel mir zum wiederholten Male ein, dass sie mir bewusst eine katholische Erziehung erspart hatte und der Grund hierfür sehr einfach gewesen war. Sie hatte als Kind, wie sie von Zeit zu Zeit betonte, „die schreckliche Erfahrung der Beichte“ gemacht. Die Funktion der Beichte, so dachte ich jetzt darüber nach, hatte eine problematische Seite für das Kind gehabt. Es musste sich eine Sünde ausdenken: Ich habe Bonbons vom oberen Küchenregal gestohlen, ich habe schlecht über meine Geschwister gedacht. So in etwa. Sie wollte nicht, dass ich in die Situation käme, jemanden anlügen zu müssen.
Seit ich hier bin, beobachte ich die sterbenden Soldaten, wie ihre trockenen Lippen ein Gebet stammeln. Oder sie flüstern nach der abwesenden Mutter. Ihr Glaube und ihre Rituale wirken jedoch auf mich heidnisch, als sei ich Katholik. Auch meinen Kollegen scheinen sich damit zu beschäftigen. Zwar eher durch Andeutungen hat einer der Ärzte seine Verwunderung zum Ausdruck gegeben, dass die Farbigen zum Beispiel sich zum Gottesdienst träfen, um zu singen und zu tanzen, was ja aufgrund der Kenntnisse, die wir über ihre Tradition haben, eigentlich kaum Erstaunen auslösen kann. Aber seine vagen Äußerungen gingen in eine Richtung, die eine Haltung zu Tage förderte, die an einen Plantagenbesitzer aus den Südstaaten erinnerte, der zu verstehen gibt, das Gott es nicht gerne sieht, dass seinetwegen getanzt und gesungen wird.
Ich bin woanders, dachte ich dann, wenn ich allein war und mir die Augenbrauen rieb. Zu Beginn meiner Dienstzeit nahm ein niederländischer Leutnant mich und ein paar Kollegen zu einem Frontabschnitt mit. Wenngleich in solcherlei Maßnahme die etwas gnädig-arrogante Demonstration von Öffentlichkeitsarbeit in den Vordergrund zu stehen schien, war nicht zu übersehen, dass die militärische Führung über den musischen Charakter stolz war, der ihrer Kriegsausrüstung im selben Maße wie der Kampfführung zugrunde lag. Eine spektakulär lange Reihe bauchiger Kanonenrohre vor einem freien Feld, die mit markerschüttertem Getöse auf die von unserem Standpunkt nicht auszumachenden feindlichen Linien schoss, entlockte unserem Führer ein stolzerfülltes Lächeln.
Nachdem dieser eher akustisch betäubende Teil der Demonstration seinen Abschluss gefunden hatte, kamen dreimannhohe Roboter zum Einsatz, die in ihren Händen Kugeln hielten, als wollten sie damit die gegnerische Partei vom Schlachtfeld kegeln. Indes ich noch über diese aparte Strategie nachsann, wurden sie vom raucheingehüllten Horizont fast verschluckt und ferner Lärm schien daraufhin die Fortführung der Kampfhandlungen zu bestätigen. Der Leutnant zeigte nach oben. In niedriger Höhe flog eine Armada von Flugzeugen, die wie monströs überzüchtete Bienen aussahen – auf dem Weg, eine sommerliche Wiese mit einem Angriff zu überraschen. Sie bedeckten den unschuldig blauen Himmel.
Wie diese Schlacht ausgegangen ist, ob die Alliierten oder die Rebellen des Gegenpapstes sie für sich entscheiden haben können, vermag ich nicht sagen. Die Zeitungen, die wir bekommen, behaupteten, wir hätten gesiegt. Doch wir sitzen immer noch hier. Und in letzter Zeit hören wir immer wieder Gerüchte über eine überwältigend neue Taktik, in der die neueste Entwicklung von Katapulten und Armbrusten im Mittelpunkt steht. Selbstverständlich schenkt man nicht jedem Gerede Gehör.
Jedoch in den letzten Tagen geriet ich in einen Zustand, in dem ich an meiner Wahrnehmung zweifeln musste. Als ich vorgestern Morgen das Lazarett verließ, bemerkte ich, dass die Soldaten, gleichwohl sie in der Regel zu den jüngeren Jahrgängen gehören, etwas Auratisches verströmten, das mich an die Atmosphäre von Schulhöfen erinnerte. Die vertraute militärische Zucht unterband zwar einen entsprechend unzulässigen Lärmpegel, doch ihre Gesichter unter den Schirmmützen verriet unangenehme Unreife. Auch die Patienten wirkten einerseits verjüngt, ihre schweren Verletzungen waren andererseits die alten geblieben. Ein nicht zu lösender Anachronismus, wie ich feststellen musste, dass in den Betten meinem Erachten nach Leute im vorpubertären Alter lagen, während das Lazarettpersonal – von der Krankenschwester bis zum Chefarzt – diesbezüglich weder große noch kleine Sprünge vor- wie rückwärts gemacht hatte.
Zugleich sprach ich mit einigen Kollegen darüber, die diese Entwicklung für eine Bestätigung unserer vor ein paar Tagen erörterten dritten Theorie hielten und sich keineswegs darüber beunruhigt zeigten. Ich umso mehr, auch weil sie sich am Ende des Gesprächs bekreuzigten und sich von mir in einer Sprache verabschiedeten, die eindeutig Latein war. Die nächsten Stunden konnte ich oft nur einen Satz denken. Etwas holt mich ein. Der Gedanke, über die Möglichkeit eines Antrags auf Beurlaubung zur verfügen, beruhigte mich dann.
Gestern trat ich mit einem solchen Vorhaben in das Büro des Abteilungsleiters, was allerdings die Verwirrung vermehrte. Er war durch ein von mir verfasstes Schriftstück von dem Gesuch vorab informiert worden und wollte diesem ohne jede Probleme entgegenkommen. Die Irritation entstand aber, als er einen Vogelfederkiel aus der Schreibtischschublade hervorholte und in ein silberfarbenes Tintenfass tauchte, um meinen Antrag mit seiner Unterschrift gutzuheißen. Mit einem Seitenblick gewahrte ich, dass auf einen Stuhl ordentlich gefalzt ein Kleidungsstück lag, das ganz wie eine Franziskanerkutte anmutete.
Beinahe wäre ich schwach geworden und hätte ihn auf die staunenswerten Veränderungen aufmerksam gemacht, denen offensichtlich alle folgen. Warum ich darauf verzichtete, lag wohl daran, dass ich plötzlich glaubte, alles zu verstehen. Draußen schaltete ich mein Handy an und egal welche Nummer ich wählte, ich erhielt keine Verbindung. Ich folgerte daraus, dass aller Wahrscheinlichkeit nach dieser Krieg erst von den Befehlshabern in der Heimat, dann von den Kommentatoren und schließlich von der Bevölkerung für unerheblich betrachtet worden war. Seit geraumer Zeit musste er also in Vergessenheit geraten sein – und wir mit ihm. So war zum Beispiel der Rückgriff auf antiquierte Waffengattungen vielleicht Ausdruck eines akuten Materialnachschubsmangels. Vielleicht aber handelte es sich um eine göttliche Inszenierung, deren Regieanweisungen wir befolgten, ohne zu wissen, dass wir Teilnehmer eines Bühnenstücks waren.
Die Panzer, die ich auf Feldwiesen stehen sah, wirkten wie Geräte im Stadium der Endverwertung. Die Soldaten zerlegten sie mit Schweißgeräten in ihre Einzelteile. Vor einem Zelt dagegen grasten Pferde. Einige Schritte davon entfernt befanden sich Männer, die eindeutig mit der Anprobe von Ritterrüstungen beschäftigt waren. Aber waren das überhaupt ausgewachsene Männer? Ich war zu weit weg, um es genau sehen zu können. Hinter einem Lagerzaun stand jedenfalls eine Kompanie stramm und sang eine fröhliche Weise. Ein Knabenchor hätte nicht heller singen können.
Ich sagte mir, dass ich von meinem Bericht unbedingt einen Ausdruck brauchte, bevor man den Strom abschaltet und die Computer einschmilzt, um aus ihnen Pfeilspitzen zu gewinnen. Im Lazarett erblickte ich Soldaten, offenbar vertieft in das Verfassen von Briefen. Was meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte, war, dass sie nicht von links nach rechts schrieben, sondern umgekehrt. Auch schrieben sie von unten nach oben. Ich schaute einem über seine Schulter. Sein Stift folgte der Schrift, aber statt zu schreiben, löschte er die Sätze. Buchstabe um Buchstabe verschwand. Sie reinigten mit dieser Technik jede Seite.
Ich ging in mein Zimmer, druckte meinen Bericht aus, las ihn durch, ergänzte ihn, las ihn noch mal durch. Ich war aufgewühlt, konnte mich nicht konzentrieren. Dabei hätte ich Reisevorbereitungen treffen müssen. Ich blickte aus dem Fenster zum unbefleckten Himmel ohne Flugzeuge und Satteliten. Da traf es mich wie ein Blitz. Voller Freude sank ich auf die Knie und vertiefte mich in ein Gebet.