Sonntag, 17. Mai 2009

Rezension zu Gero Benraths neuem Roman

Mir liegt seit einigen Tagen ein Text vor, ein Roman von Gero Benrath (es ist - glaube ich - seine dritte Publikation), der den Titel "Die chinesische Mauer in europäischen Köpfen" trägt; und dessen Handlung ausschließlich in einer Berliner Kneipe spielt, genauer: in einer Kaschemme in der Edinburgher Straße. Ich gestehe gleich ein, dass ich Darstellungen von Etablissements dieser Art wegen des unausweichlichen Lokalkolorits von Grund auf mißtraue. Ohnehin fehlt mir der Sinn für Protagonisten, dessen bester Freund die Flasche ist. Und es macht die Sache oftmals auch nicht besser, wenn die Figuren charismatische Säufer sind. Man merkt allerdings sofort, dass Benraths Helden, obwohl beide 272 Seiten lang fast nur am Tresen sitzen und die Welt vom Himmel herabreden, zumindest keine Langweiler sind - keine im kulturen und sozialen Abseits befindliche Privatdiven, keine Nullen, die stullig und stoned ihren öden Daseinsfleck in die Wolken hinauf quasseln wollen. Der eine Mann, den wir kennen lernen, ist blond wie ein Däne und groß wie ein Schrank - und trägt einen eindeutig asiatischen Namen: Jui Sun Zi. Sein Freund ist offensichtlich - wenn ich das richtig verstanden habe - auch nicht gerade ein Hemd. Er ist spanischer Herkunft und trägt einen ebenso phantasievollen Namen aus dem fernen Osten: Li Tie Kong. Der Leser erfährt nach und nach, dass beide außerhalb des Gastschenkenkontextes bürgerliche, rein westeuropäische Namen tragen - und dass der Alkohol, den sie an jenem Freitagabend zu sich nehmen, über seine Funktion zum Rausch hinaus als Flüssigkeit gewertet wird, die Taufcharakter hat: Also, heilig sind die Tropfen, die da fließen.
Und nicht nur die sind dem Irdischen enthoben. Li erklärt gleich zu Beginn, worum es im Roman gehen wird: Um eine Theorie der Hybris. Er spekuliert entlang einer aus seiner Sicht von theoretischen Überlegungen vernachlässigten psychischen Grundordnung, die Größenwahn als affektive und gedankliche Ur-Form begreift, als morphologisches Phänomen mit hoher Verwandlungspotenz. Jede Kunst, jede Philosophie, jede Religion, jede Politik, jede Weltanschauung, so Li weiter, hat, weil sie individuell und entfernt von sozialer Kompatibilität entsteht, im Nukleus des scheinbar losgelösten, ungeeichten Ich-Individuums vorgestellte Anteile kollektiver Natur.
"Die Engel der Verkündung...", so lässt Benrath seinen Protagonisten glasklar reden, "... Oder sagen wir besser, der eine Engel, mit dem Namen Gabriel, der das erste Mal die Geschichte etwa im Jahre 4 nach Christus betritt... und irgendein schmutziges hebräisches Nest aufsucht, um einer jungen und sehr verwirrten Frau mitzuteilen, sie sei ohne geschlechtlichen Verkehr vom Heiligen Geist geschwängert worden und ... na ja, den Rest kennst du. Dieser Engel taucht 600 Jahre später wieder auf, in der Wüste bei Medina und flüstert einem Mann, der in einem Zelt haust, zu, er trage das Buch der Bücher in seinem Herzen, was auch bedeutet... ja, dass Gottes private Bibliothek ein einziges Buch zur Verfügung hat - sozusagen den ewigen Bestseller, ja... Und heute ist es so, dass jeder, wenn er aufsteht und seinen Kaffee kocht, diese Begegnung mit einer transformierten, ins Kulturindustrielle verschobenen Form eines Verkündigungsengels hat. Es gibt diesen mythologischen Gründungsakt in sechs Milliarden Haushalten, weil es nichts so fühlbar individuelles gibt wie die Prophetengestalt."
Das ist - das merkt man nach und nach - ein Schreiben entlang des Limits, welches die Nacht vorgibt, gleichwohl oder gerade weil die Gedanken den Augenblick religiöser Morgenröte einzufangen versuchen, einen Beginn, ein Erwachen intellektuell umreißen, eine Art Erwecktwerden nachzuvollziehen trachten. Vergeblich, weil die Protagonisten nicht fühlen können, was sie geistig ausführen: So wirken Benraths Figuren – je weiter der Roman voranschreitet - wie chinesische Atheisten, fasziniert vom ihnen eigentlich fremden abendländischen, präkopernikanischen Kosmos. Sie glauben die göttlichen Strahlen mit den Augen konfuzianischer Skepsis zu sehen. Und wir glauben, einen Roman vor uns zu haben, in dem eine theologische Debatte im Mittelpunkt steht. Dem ist natürlich nicht im ausschließlichen Sinne so, denn dieser Diskurs ist eingebettet in die traditionsreiche Ästhetik eines – schwieriger Begriff, ich weiß - avantgardistischen Romankonzepts, wie man es von Thomas Pynchon oder Cabrera Infante kennt; und deren Werke ja in der Nachfolge von James Joyce „Ullyses“ und aus einem sich daraus ableitenden totalen Romanverständnis entstanden waren. Und gleichzeitig ist Gero Benraths Roman eine Kritik an jene Konzepte. Gerade weil sich Benrath mit der teilweise ins Surreale verschobenen Handlung an jene Ästhetiken lehnt.
Aber vielleicht versteht der Schriftsteller seine Liebe zum Quatsch gar nicht unbedingt als U-Boot-Fahrt, welche unterhalb verbindlicher psychosozialer Wirklichkeiten führt. Mehrmals führt Benrath seine zwei Helden vor die Tür der Kneipe, offensichtlich allein zum Zweck, dass beide eine Veränderung bemerken. Staunend registrieren sie, dass sie in einer Kneipe sitzen, die „Die Taigonauten der reinen Anarchie“ heißt. Eine Stunde später heißt der Laden dann „Das Chop Suey der außergewöhnlichen Kräfte“. Wenig später nennt sich die Kaschemme „Die Brutstätte des Shanghai-Kapitalismus“. Also: Jedes Mal heißt die Kneipe anders. „Meine manchmal auftretende Unfähigkeit zum Empfinden von Glück“, behauptet einmal Jui Sun, als er erneut zum Ladenschild raufschaut, „ist dem Umstand geschuldet, dass ich alles erklären will. Ich träume viel und aufwendig, nur um mich danach mit dem Wesen dieser Träume zu beschäftigen, in der Hoffnung, eine verbindliche Aussage über mich zu erhalten. Aber ich habe zu wenig Abstand zu mir selbst – und der Bilder-Reichtum meiner Träume scheint mir mitzuteilen, dass man sich so nicht zu fassen kriegt, kein Selbstbildnis erhält, man verliert sich.“

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