Montag, 20. April 2009

Die neuen Waffen (1)

Montag, 20. Januar

Henry Socrates Gonzales, ein junger Mann von 21 Jahren, stand an einem milden Januartag vor dem größten Schauspielhaus Brunhagens. Er betrachtete die schöne, mehrere Karyatiden aufbietende und mit allegorischen Figuren bereicherte Fassade aus alter Zeit. Der etwa eins neunzig große und kräftig gebaute Mulatte verfiel beim Anblick beinahe in eine Art von Meditation – und merkte nicht, dass er einer etwas zwielichtig aussehenden Gestalt, die einen länglichen schwarzen Instrumentenkoffer trug, den Weg versperrte. Der Mann bedachte Henry Socrates mit einem Blick - halb vorwurfsvoll, halb seufzend – und setzte seinen Weg fort. Henry Socrates bemerkte den Waffenhändler Walter Landgut-Johannson kaum - eben weil er in Grübeleien vertieft war: Das Unterleibprickeln der Theateratmosphäre, der ichwütige Zauber der Bühne, das Weihevolle des Schauspieleregos, der Dreck der Wahrheit, der glänzende Lack der Lügen, das Spiel mit dem Körper – „mit meinem Körper!“

Eine Stimme sprach zu ihm, die einerseits eindeutig ihm gehörte, andererseits von jemanden stammte, der – wie sollte er es ausdrücken – in ihm saß; und der nicht unbedingt identisch mit ihm war. Der zigarettenrauchverschleimte Gruselalkoholikersound war ihm dabei bestens vertraut. Du wirst gleich ein Gotteshaus betreten, sagte dieser andere, in dem eine neue und nie vergehende Religion gelehrt wird – die Religion des großen F.

Henry Socrates konnte den Impuls nicht unterdrücken, sich über seine Rastafrisur zu fahren. Das Haar fühlte sich gut an. Er schaute zum sich langsam verdunkelnden Himmel herauf - und sah das grüne, kreisrunde Gebilde, das sich langsam drehte und einen Schweif hinter sich zog – das Kraftfeld der Raumschiffe der Gorgos, deren Positionslichter er ausmachen konnte. Seine Gedanken zogen ihn fort: Vor ein paar Tagen saßen bei einer Probe zwei Gorgos und ein Hregelianer im ansonsten leeren Auditorium der Schauspielschule, die in einem Gebäude schräg hinter dem Schauspielhaus untergebracht war. Alle drei trugen schwarze Anzüge anstatt ihrer Trachten - und saßen in einer der mittleren, schlecht ausgeleuchteten Sitzreihen links. Während er und sein Kollege eine Improvisationsidee ihres Lehrers Elias Baptist Omro umsetzten, die darin bestand, zwei junge ausgehwütige Männer darzustellen - was im Grunde eine Schulung im Vermeiden von Klischees war, irritierten ihn plötzlich diese drei Gestalten. Sie schienen wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Der gelassen wirkende Hundeschnauzencharakter in den Gesichtszügen des Hregelianers, das würdevoll Undurchschaubare wie gespenstisch Stille in den Sauriergesichtern der Gorgos. Henry Socrates hatte den Eindruck, dass sie extra wegen ihm gekommen waren und ihn genau beobachteten; und für einige Sekunden hatte er, was sich wegen der Bewusstseinsleere unangenehm anfühlte, keinen Zugriff auf eine Idee oder Inspiration für diese schwere Improvisation gehabt.

„Ich bin“, hatte Henry Socrates schließlich gedonnert, „wenn ich abends ausgehe, so etwas wie ein Salat.“

Für einen Bruchteil einer Sekunde schien sein Kollege Hanns-Said – jedenfalls dem Gesichtsausdruck zufolge - über diese Introduktion perplex zu sein.

„Ein Salat!“, schrie er zurück, in einem Ton, als übten sie die Rollen der jungen Männer in „Romeo und Julia“ ein. „Du meinst, wenn du abends ausgehst und all die weiblichen Schönheiten um dich siehst, hast du nur Salat im Kopf.“

„Ist es dir genehmer“, orgelte er – noch immer seiner Rolle unsicher, „wenn ich beim Anblick der Grazien lieber an Würste und Schinken denke?“

„Ah, wir kommen der Sache schon näher“, jaulte Hanns-Said und machte dazu das Gesicht eines Kabarettisten, der nun eine Kette von Launigkeiten auf das Publikum niederprasseln lassen würde. „In deinem tiefsten Innern verbirgt sich also ein Metzger, der junges Gemüse schlachten möchte. Ich habe es immer gewusst: Du bist ein Psychopath.“

„Ein solches Krankheitsbild geht nur auf, wenn der Patient über eine Psyche verfügt“, entgegnete Henry Socrates im cäsarischen Rednerstil. „Über eine Psyche – defekt oder intakt sei dahingestellt – verfüge ich nicht. Und wie ich schon sagte: Ich bin, wenn ich abends ausgehe, ein Salat. Zumindest fühle ich mich so. Frisch, zart, knackig.“

„Du redest Salat – und gehörst in eine Biotonne. Das ist das, was du mitteilen möchtest.“

„Ich gehöre eher in einen Kühlschrank, damit meine Haltbarkeit gewährleistet wird.“

So setzten beide das Spiel, das Omro in der dritten Reihe sitzend stoisch beobachtete, einige Minuten fort; und als Henry Socrates die Gorgos und den Hregelianer fast vergessen hatte, blickte er ins sanft nach oben verlaufende Auditorium. Doch sie waren nicht mehr da, was ihn so überraschte, dass er glaubte, sich ihre Anwesenheit eingebildet zu haben. Trotzdem, noch im Ton seiner Rolle befangen, fragte er:

„Wo sind die Außerirdischen?“

„Ah!“, sein Kollege holte derart tief Luft, als würde er gleich ein hohes C in den Raum schmettern wollen. „Ihr seid ein außerirdischer Salat!“

Er schaute zu Elias Baptist Omro rauf, der ohne die Miene zu verziehen ihrer Darbietung folgte. Ein Seitenblick auf die anderen Schauspielschüler, die rechts von Henry Socrates in den ersten zwei Reihen saßen, verriet ihm, dass sie die Fremden offenbar nicht bemerkt hatten. Er spielte weiter die Rolle eines aufgedrehten Jugendlichen. Die nächsten Tage ließ ihn dann die Frage nicht mehr los, was drei Bewohner eines Planetensystems, das etwa 150 bis 300 Lichtjahre von der Erde entfernt war, in einer Brunhagener Schauspielschule zu suchen hatten. Die Frage war natürlich nicht zu beantworten. Darüber hinaus hatte ihn das Ereignis – ob es sich nun um Einbildung gehandelt hatte oder nicht, erschien ihm nicht relevant – stark irritiert. Eine Irritation, die einen bemerkenswerten Energieaufwand forderte, um sie abzubauen.

„Kennt ihr eigentlich die Figuren, die ihr da darstellt?“, hatte Elias Baptist Omro schließlich gefragt. Er wirkte mit den übereinander geschlagenen Beinen und den großen Händen, die sich, als er den Satz beendete, lediglich an den Fingerspitzen berührten, auf eine gewollte Art gelassen. Henry Socrates schaute zu dem vierzigjährigen Mann rauf – und tat so, als bemerkte er ihn erst jetzt. Dieser Ausdruck kurzer Überraschung hätte sogar signalisieren können, dass Henry Socrates einigermaßen über den geschmackvollen, weinroten Pullover erstaunt war, den Omro anhatte. Omro ließ sich aber von dieser kleinen Schauspieleinlage – dieser Mini-Zugabe - nicht ablenken. Sein schmales Gesicht, das in einem spitzen Kinn endete und dominiert wurde von seiner halben Kahlköpfigkeit, zeigte Spuren von Spott und Zustimmung; und Henry war sich sicher, dass ihn die Nummer gefallen hatte, weshalb er sie beide auch ein klein wenig herunterputzen würde.

„Oh, ich kenne in Wirklichkeit nur ein einziges Bedürfnis“, erwiderte Hanns-Said mit einer provozierenden Gutgelauntheit. „Und dem trachtete ich – auch weil ihr es verlangtet, eine darstellerische Form zu verleihen.“

Omros Hände trennten sich langsam, was aussah, als würde diese Geste die Länge und Schwerkraft seines Gedankens unterstreichen: „Ihr habt Figuren improvisiert, die unvermeidlich an klassische Vorbilder angelehnt sind.“

„Nun, wir sind Schüler“, sagte Hanns-Said aufgeräumt. „Wir befinden uns noch im Prozess des Werdens.“

„Eben das ist das Problem“, die Fingerspitzen berührten sich wieder.

„Es wäre Ihnen, glaube ich, lieber gewesen“, lenkte Henry Socrates ein, wobei seine Augenlider sich fast schlossen und er die Hände nach hinten verschränkte, „wir hätten die beiden zeitgemäßer dargestellt?“

Hanns-Said ahmte Henrys Haltung nach, übertrieb sie sogar und murmelte: „Voll korrekt, Alter!“

Die anderen Teilnehmer kicherten – und auch Omro hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen.

„Ja, etwas bedürftiger und peinlicher hättet Ihr schon rüberkommen sollen.“ Er schien seufzen zu wollen. „Aber der Mensch ist mehrräumig, wie der verbotene Palast des chinesischen Kaisers.“ Er machte eine Pause – und jeder wusste, dass er gleich die Stunde für beendet erklären würde.

Manchmal liebte Henry Socrates diese Stunden, dann wieder hasste er sie – und es gab dafür einen Katalog von sich widersprechenden Gründen. Die Schauspielerei versprach – wie ja jede Kunst, dabei sich im Kleide des Propheten präsentierend - seinen Teilnehmern schmerzlich-süß Verheißungen, die in diffusen Erfüllungen mündeten: Sie ruhten beunruhigt in einem wie die Gene – und sprachen in begriffsloser, stummer Rede von etwas, dass in Ermangelung besserer Worte als Liebe, Hoffnung, Wahrheit oder Schönheit bezeichnet wurde. Aber oftmals erschien Henry Socrates dieses prekäre Spiel, unter anderem bestehend daraus, mehrere Identitäten anzunehmen, als bloßes Versteckspiel der Seele mit den Wünschen, aufzusteigen in den Himmel der menschlichen Sterne, auszukosten den Wein des Ruhmes, sich zu sonnen in den Verlockungen des Honigglanzes, der von der Prominenz ausgeht – wobei er jetzt schon die Klebrigkeit des Ganzen fürchtete, als hätte er Einsicht in seine baldige Zukunft.

Jetzt, da er vor dem wuchtig-protzigen Theatergebäude stand, würde er wieder eine Schauspiellehrstunde hinter sich bringen. In den affirmativen Charakter seiner Meditation hatten sich allerdings Zweifel gemischt, die ihn von Zeit zu Zeit befielen. Immer wieder drang in das von ihm erklärte Absolute, das die Schauspielkunst sein sollte, ein Relativismus. Eine ernste Darstellung eines Charakters, nahe der eigentlich doppelbödigen Natur des Menschen, war die eine Seite der Medaille. Die andere war der Pausenclown, dem Verlangen nach Gelächter preisgegeben. Und nichts liebt der Schauspieler so sehr, als wenn das Publikum, weil seine Bühnenhandlungen Vergnügen verursachen, vor Glück fast birst. Er liebte das Gefühl, das Publikum in der Hand zu halten, ebenfalls. Doch Henry Socrates verspürte etwas Paradoxes, etwas, das ihn dazu trieb, auf der Bühne sein zu wollen und gleichzeitig unsichtbar zu sein, als wäre er gar nicht anwesend.

Zum Beispiel gab es dieses Stück von einem gewissen Rastarette, das die Gruppe vor ein paar Monaten teilweise eingeübt hatten – und welches „Der Ernstfall“ hieß. Er mochte dieses Stück. Die Handlung war, vor allem wenn er sie Freunden nachzuerzählen trachtete, schwer wiederzugeben: In einer Szene erblickte man beispielsweise, wie ein Astronaut auf dem Mond spazieren geht. Die graue, musiklose Wüste beschienen von der Sonne, der All-Himmel von einem dichten, sich der Sprache verweigernden, sternenlosen Schwarz. Und der Mann in diesem Astronautenanzug – das begreift der Zuschauer langsam - scheint den Eindruck zu haben, als sei er hier ohne Raumkapsel. Ein magischer Zufall muss ihn auf die Mondoberfläche katapultiert haben. Schwer atmend teilt er dem Kontrollzentrum in Houston mit: „Ich möchte tanzen.“ Mehr nicht. Man hört ein langes Schweigen, bis er den Satz wiederholt – und er kommt schwer rüber, wie ein endgültiges Bekenntnis. Ja, es klingt, als sagte er „Ich möchte sterben.“

Omros hatte zusammen mit einem Bühnenbildner die Bühne in zwei Abschnitte geteilt: Rechts die Mondlandschaft, links das Kontrollzentrum – und die Mitarbeiter in Houston erstarren bei dem Satz „Ich möchte tanzen“. Sie erstarren vor einer unheimlichen Wahrheit, die größer als der menschliche Verstand ist. Ganz leise, gespenstisch dezent erklingt aus dem Hintergrund einer der berühmten Titel aus der Discozeit. Aber auch diese Musik begreift man nicht mehr. Sie klingt wie eine fremde, piepsige Sprache. Henry Socrates hatte als Darsteller des Astronauten, der den irdischen Boden aus Lettern verlassen hatte, um einen unendlichen Raum der Leere zu betreten, einen Augenblick lang geglaubt, begreifen zu können, dass es so etwas gab wie das Wort, welches alle Wörter beinhaltete; und sie gleichzeitig – bei ihrem Entstehen sozusagen - auslöschte. Und er hatte während der Proben an dem Stück gesehen, wenn er seiner Beobachtung denn trauen konnte, wie Omro einerseits darauf gedrängt hatte, allgemein verbindliche Verständlichkeit zu produzieren, andererseits aber er - als Regisseur - in Abständen die Aussage in etwa durchsickern ließ, dass die Frage, wen kümmerte das hier alles, durchaus unbeantwortet bleiben durfte.

„Wer hat jemals in jenen leeren Raum, den wir das erste Mal betreten, ein Wort fallen lassen“, sagte eine Figur im Kontrollzentrum in Houston – es ist das Jahr 1969, „geschweige denn eins gehört, das zu den Sprachen gehört, die vor und nach dem göttlichen Dekret von Babel vom Zinnenkranz wie von den Zungen sprangen? Selbst das Schweigen des raumlosen Raums ist nach menschlichem Ermessen nicht das Schweigen nach dem Ausfall der Sprache. Wer hat in diesem Raum - frage ich - jemals die Stimme erhoben, so wie wir es dann unten im Irdischen glaubten, vernommen zu haben, dass es eben seine ist? Seine Stimme. Jetzt stellen wir lediglich fest, dass er schweigt. Und müssen uns fragen: Schweigt er deshalb, weil wir uns unbefugt Eintritt in seine Gemächer erlaubt haben? Oder ist er aus einem Schreck heraus, weil die Verwirklichung technischer Möglichkeiten sein diesbezügliches Monopol verletzt, verstummt; und lässt alles in Schwärze und Weite erstarren?“

„In diese erhabene Gleichgültigkeit hinein erfasst der Blick des Astronauten eine Figur am Mondhorizont. Sie kommt langsam auf ihn zu. Er dagegen bleibt stehen und stellt fest: Äußert sich das Staunen in einem, nimmt man zunächst eine schwache Resonanz wahr, die dem Entstehen des Staunens inne liegt. Doch das Staunen versteinert. Die Figur, die auf ihn zukommt, hat offensichtlich mit der Schwerelosigkeit keine Probleme. Sie geht ein wenig wie der Erdenbewohner auf seinem heimatlichen Planeten. Sie trägt einen Raumanzug, der blau und silbern ist, der Helm schmal - von der Form her wie ein vertikales, menschliches Auge. Das Sonnenlicht schillert kalt auf dem ovalen Sichtfenster, so dass er das Gesicht seines Gegenübers nicht erkennen kann. Er fühlt sich von dem wohl Grundlegendsten, das dieser Situation entspringt, geblendet. Dann bleibt die Figur stehen, gerade mal zwei Meter von ihm entfernt. Und er sieht das erste Mal die ernsten Züge der Eidechse des Gorgo, sieht seinen misstrauisch prüfenden Blick.“

„Das ethische Prinzip dieses Stückes ist“, hatte Omro einmal gesagt, „das sich jede Ethik in die unendliche Weitläufigkeit der Leere verliert. Das bedeutet nicht“, so er weiter (sie standen alle auf der Bühne, umringten den Mann, der so gerne durch und durch Lehrer war), „dass sich die bekannten Kategorien von Gut und Böse einfach aufgelöst haben.“

„Schön und gut“, hatte Henry Socrates erwidert und seinen Helm abgenommen, „aber in diesem Ding schwitze ich wie in einer Sauna.“

Leises Gelächter, Omro verzog seinen Mund zu einem dezenten Lächeln säuerlicher Ironie.

„Und das ist eindeutig Ethik“, erklärte Henry Socrates.

„So?“, murmelte Omro in Fagotttonlage. Es sollte bedrohlich klingen.

„Ja, das ist nämlich eindeutig schlecht.“

Wieder leises Gelächter aus dem Rund. Der Mann in der Mitte sah seinen Schauspielschüler traurig an.

„Es ist ja auch kalt da draußen im Weltraum. Sogar sehr kalt.“

„Im Theater ist es aber bullig warm.“

Henry Socrates, der noch immer vor dem Theatergebäude stand und dem langsam unter dem Eindruck der sich abkühlenden Atmosphäre die Bilder der Erinnerungen einfroren – auch er selber fing an zu frösteln, erinnerte sich daran, dass er morgen den berühmten Hollywoodschauspieler R. für das Magazin „X und X“ interviewen würde – und dass er seinen Staatsdienst im „Paradies der Hundertjährigen“ fortsetzen musste. Etwas Zeitgenössisches durchdrang ihn bei den Gedanken um den Star, mischte sich mit Vorfreude und Nervosität. Des Schreibens mächtig schien seine innere Apparatur zu sein und einen Teil seines Körpers – vielleicht ein Organ? - in einen Zettel oder in eine virtuelle Bildschirmfläche zu verwandeln. Er konnte das Geschriebene nicht entziffern – und ging hinein zu den Proben.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen