Donnerstag, 5. März 2009

Strand der Schuld, Wald der Sühne

Die Motorboote hinterließen einen glitzernden, fetten Schweif weißen Meeresschaums auf der Wasseroberfläche, während sie auf die Schiffe in leichter Schräglage zurückbrummten. Wir standen mit unseren Ausrüstungen am Strand, blickten ihnen hinterher, dann machten wir uns auf dem Weg, der uns durch unwegsames Waldgelände führen würde. Ich strich überprüfend über den ledernen Brustpanzer, rückte meinen spitzen Helm zurecht und fuhr mir über den Vollbart. In der Ferne meinte ich Karavellen zu sehen, über die schwarzer, vernichtender Rauch hing. Ich drehte mich in Richtung der Kameraleute, setzte den melancholischen Blick des erfahrenen Anführers auf und setzte mich an die Spitze des etwa vierzig Mannes starken Zuges.
Sich durch das Dickicht zu schlagen, war eine Herausforderung. Die Landschaft war dicht bewaldet und hügelig, ja bucklig, so dass es dauernd auf und ab ging. Bald keuchten und stöhnten wir. Ungewöhnlich anstrengend war dies alles, ja. Und wir scherzten über die ungewöhnliche Belastung, der wir uns freiwillig verschrieben hatten. Man hörte die Affen bewundernswert seltsame Laute formen, die Vögel in fremden Tonfolgen zwitschern. Ich schaute von Zeit zu Zeit auf die Karte, die uns vom Strand der Schuld in den Wald der Sühne brachte. Die kartographische Zeichensprache der Karten erinnerte in ihrer Grobheit eher an die Schatzinselkarten unserer Kindheit – trotzdem, sobald eine Kamera auf uns gerichtet war, nahmen wir die Requisiten und Rollen ernst.
Ich erinnerte mich öfter als mir lieb war an eine Begebenheit, die sich in der Fußgängerzone meiner Heimatstadt abgespielt hatte. Kurz vor meiner Abreise hatte ich eine meiner Exfreundinnen, Tanja, mit einem Kinderwagen unvermeidlich auf mich zukommen sehen. Ihre freien Glieder unter der Sommerkleidung dünndrahtig, das Gesicht mütterlich knochig, ein fieses egoistisches Glück ausstrahlend. Ich hatte ihr nicht entkommen können, musste mich mit ihr unterhalten und machte den Fehler, meine Absichtslosigkeit in der Gesamtheit des gesellschaftlichen Daseins in irgendeine Weise vor ihr anzudeuten – eine Redeweise, die sie offenbar dazu einlud – ganz typisch für sie, die Waffen psychoanalytischen Vokabulars auszupacken.
Wir hatten mal ein heißes Verhältnis gehabt; ja, aber wir hatten auch einen Zustand gegenseitigen Vertrauens mal erreicht, hatten uns wie Sardinenbüchsen gegenseitig geöffnet und unser öligen Inhalte gezeigt, was jede Form von Nacktheit mit der Zeit überbietet. Wir hatten unsere Neurosen in unzähligen offenen Gesprächen, in die die Nacht schläfrig eingesickert war, im naiven Geständniswahn auf den Tisch mit der Kerze und den Weingläsern ausgebreitet.
Und natürlich kamen die Eltern darin vor, die bösen Gestalten des Ich-Theaters, und die Obsessionen, die ewige sexuelle Fehltreterei des Mannes, die abschließende Vernunft der Frau, zwei junge Leute, von unterschiedlichen Gewalten auseinander gerissen. Wir hatten uns durch Täler unsrer Psyche gearbeitet, Tränenbäche verursacht, waren durch den Regen und die Einsamkeit unserer nie aufhörenden Vergangenheit in einer selbst erhöhenden Weise gegangen und hatten schließlich den unsichtbaren Gespenstersäugling unserer allmählichen Entzweiung gezeugt. Und jetzt begegneten wir uns nach zwei Jahren auf der Fußgängerzone. Das atemlose Keuchen der Herrschsucht in uns.
Da erzählte ich ihr von dem Strand der Schuld und dem Wald der Sühne, in die ich meine Getreuen führen würde. Und weil das Fernsehen über eine biblische Macht verfügt, blieb Tanja, die mit ihrem Mann außerhalb meiner Reichweite im Süden lebte, nichts übrig, als mein in ein öffentliches Unternehmen eingebettetes Vorhaben als Chance zu werten. Die Erinnerung an das Gespräch und der Geschmack der Beziehung ließ tolle Stürme in mir entstehen, die mich manchmal durch den Dschungel vorantrieben. Das silbrige Aufblitzen des Metalls der Machete, das zornige Summen der Moskitos, die von der Anstrengung gezeichneten Gesichter, der unfertige Opern- und Filmstoff mit seinem starken emotionalen Gehalt. Ich brauchte etwas. Was es hätte sein können, weiß ich nicht. Eine Substanz ganz sicher.
Das Drehbuch sah vor, dass wir am zweiten Tag unserer Reise das Dorf der Autochthonen erreichten. Sie wirkten entschieden unindianisch. Ihre größtenteils entblößten Körper vollkommen blau oder grün angemalt, was einen äußerst befremdlichen Eindruck hinterließ. Wir waren ein wenig verwirrt, weil diese Ureinwohner keineswegs instruiert wirkten; und sie sich uns auch zunächst in einer nicht einzuordnenden Weise näherten. Ich gab einen der Offiziere Befehl, mit der Muskete in die Luft zu schießen, was sie aufgeschreckt davonlaufen ließ. Erst nachdem wir uns in ihren Hütten eingerichtet hatten, kehrten sie zurück und näherten sich uns furchtsam. Die Kommunikation erwies sich als schwierig, wir verstanden einander überhaupt nicht. Sie boten uns zaghaft etwas zu essen an. Was wir identifizieren konnten, nahmen wir an, was die gegenseitige Befangenheit etwas aufhob. Übrigens aßen sie kleine, lebende Frösche. Ein Anblick, der uns faszinierte. Niemand von uns wollte allerdings eine Kröte ausprobieren. Bevor es dämmerte, entdeckten wir Holzkäfige, wo sie die Insassen gegnerischer Stämme gefangen hielten. Es schien nicht ratsam zu sein, sie zu befreien. Wir merkten, dass unsere Gastgeber in dieser Angelegenheit keinen Spaß verstanden.
Natürlich hatte uns die Produktionsleitung gesagt, dass es durchaus wünschenswert wäre, wenn einige von der Crew sich verlieben würden. Ich hatte jedenfalls ein Auge geworfen auf die Argentinierin Paquita. Sie hatte zwei unglaubliche Tattoos. Auf jeder Leistenseite sah man einen Revolver, deren Läufe auf den Eingang ihres Geschlechts zielten. Am nächsten Morgen schauten sich einige von uns die Aufnahmen der letzten Nacht an. Die Szene wirkte harmlos. Man sah Schemen, Schatten, Umrisse. Man hörte uns, wie wir uns küssten und ein wenig seufzten. Die Nachtgeräusche des tropischen Waldes um uns.
Der nächste Tag, wir zogen weiter, flach das Land, riesige Bäume, die den Himmel kitzelten. Durch die Lücken der Kronen brach milchiges Licht durch. Westlich unseres Weges, gut sichtbar, ein schlammfarbener, stiller Fluss. Die verstörende Schwüle – und der Körper, der gegen die hohe Luftfeuchtigkeit ankämpfte. Das Gefühl der Gefangenschaft des Körpers, unsere schwere Ausrüstung, unsere Kampfbereitschaft, die Kamera richtete sich einmal auf mich, ich zog langsam das Schwert aus der Scheide, das herrliche Geräusch des Metallkontakts rief für einen Bruchteil das Bild eines Engels in mir hervor. Ich streckte den Arm mit dem Schwert aus, halb hoch. Mein entschlossenes Gesicht in der Hitze des Tages. Die Kameralinse halblinks von mir, dahinter einer der Kameramänner, die Grammatik der Bilder, die gerade entstanden und jetzt zu sagen schienen: „Ich sehe ihn.“
Ich sah mich auch – später – aus der Perspektive einer Kamera, die zunächst die schwarz glänzenden Schuhe aufnahm, wie sie über das Parkett gingen. Die schönen Geräusche dabei: Das Knarren des Holzes, das dumpfe und dunkle Seufzen des Schuhleders. Dann stand ich am Fenster, das auf eine Gasse herausschaute, verschränkte die Arme, die Haare schulterlang, ein Stück Musik meines Körpers, ich trug noch keinen Bart, die sanfte mitteleuropäische Sonne im Fensterausschnitt. Die unfreiwillige Erinnerung, und als ich in Paquitas Gesicht schaute, die Wangenknochen, der erschöpfte Blick, der Mund, der mit dem Durst kämpfte. „Was ist?“, fragte sie böse.
„Denn so erzählte eine Stimme in mir folgende Geschichte“, teilte ich ihr leise mit. Die Kameras näherten sich uns, eine nahm meine Lippen auf. „Als Romero noch als Taxichauffeur arbeitete, hatte er einmal zwei betrunkene junge Männer als Fahrgäste gehabt. Der eine war so besoffen gewesen, dass er anfing zu delirieren. Er sah fürchterliche Gestalten in der Fünfuhrhelligkeit, durch die das Mercedesauto fuhr. Die Fratzen schrieen – und er schrie zurück. Er behauptete, Romero würde einen Umweg fahren, und öffnete während der Fahrt die Tür. Man erzählte mir, dass Romero…“
„Und Romero, das bist du“, unterbrach mich Paquita. Der Mund verzog sich spöttisch.
„… den Wagen anhielt“, flüsterte ich weiter (und mein Flüstern war Gesang. Die einsame Küste – und ich sang leise ein Lied) „und, alle drei standen draußen, den Schreienden beruhigen musste. Das sei die richtige Strecke. Wenn er Romero nicht glaube, dann brauche er nicht zu bezahlen. Die fünfzehn D-Mark Verlust könne er an einem Sonntagmorgen verkraften. Der Fahrgast beruhigte sich, Romero brachte ihn nach Hause. Die Arroganz des Delirierenden, der den Taxifahrer mit zehn Mark abspeiste. Sein Freund war allerdings noch schlimmer. Während der Fahrt hörte er nicht auf, zu betonen, wie leid ihm doch Taxifahrer täten. Zehn Minuten ging das Bedauern – ohne Unterbrechung. Die leeren Straßen, der Schlaf der Stadt – und ein betrunkener Mann, der mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe des Abends keine abgekriegt hatte, säuselte mit unglaublicher, ihm nicht bewusster Bösartigkeit sein Mitleid in das Innere der C-Klasse. Der Wagen verwandelte sich im Nu in ein kleines, trauriges und schmutziges Bordell. Romero war eine Hure des Morgenasphalts, ein Asthmaanfall der Lust. Er begriff.“
Ich schloss die Augen. Nach ein paar Sekunden fragte Paquita: „Was?“
„Dass der Zorn ein prächtiger Palast ist, der aus einer Lichtung hervorschaut.“
Ich öffnete die Augen und sagte ihr im normalen Tonfall, laut den Karten müssten wir morgen die Hauptstadt der Eingeborenen erreichen.
Dem war auch so – und wir staunten nicht schlecht über den Aufwand, den die Produktionsfirma bei der Errichtung einer kompletten Aztekenstadt betrieben hatte. Schon als wir die Außenbezirke erreichten, strömten Leute aus ihren Hütten, unterbrachen ihre Arbeit und umzingelten uns, wobei sie alle auf einmal zu sprechen schienen. Jedenfalls, das war ihren Gesichtern abzulesen, schienen sie über unsere Anwesenheit erfreut zu sein. Wir – und ich glaube, unsere Empfindungen waren da synchron – fühlten uns wie ein berühmtes Basketballteam; und um uns ein Meer aufgeregter Fans, das nach Autogrammen verlangt. Schließlich begleiteten uns halbnacktre Soldaten – oder vielleicht waren es Polizisten? – in die Innenstadt. Sie trugen Lanzen, deren Spitze goldfarben leuchtete. Auffällig war ihr grauweißblauer Federschmuck, der ihre Wichtigkeit unterstrich.
Kurz bevor wir in den Kern der großen Stadt vordrangen – noch immer staunend über die hohe Anzahl an Komparsen; diese Dimensionen erinnerten regelrecht an Hollywood. Die Fernsehgesellschaft XBT, die uns engagiert hatte, musste ein Stadtteil von Mexiko-City rekrutiert haben – sahen wir schon die vier unterschiedlich großen Stufenpyramiden; und um sie herum Paläste und Tempel. Wir näherten uns also dem Stadtteil der Reichen und Mächtigen.
Die Menschenmenge begleitete uns zu einem großen, flachen, sandfarbenen Haus - mit einem herrlichen rot gekachelten, teilweise mit Pflanzen bedeckten Innenhof und frugalen, aber kühlen Gästeeinzelzimmern. Jeder von uns musste für einen Augenblick allein sein. Wir ruhten ein wenig aus, duschten dann kalt, zogen uns um und bereiteten unser Abendessen mit besonders guter Laune vor, eben weil dieser Empfang uns so begeistert hatte. Die Spaghettis, wie sie dampfend in das Sieb rieselten, die zwei Tomatensaucen, wie sie im Kochtopf brodelten, der mit Holzscheiten gefütterte Herd, der mitgebrachte Rotwein, wie er die Gläser füllte: All das nahmen die Kameras auf, als seien diese Handlungen etwas einzigartiges, wertvoll, archetypisch. Ich habe die Aufnahmen ja später gesehen: Die Wackelbilderdokuästhetik verleiht dem Ganzen einen Kunstcharakter.
Der frühe Morgen warf sein Licht über die Stadt umgebenden hohen Berge. Wir zogen in voller Ausrüstung durch die noch schlafende Stadt. Die wenigen Leute, die wach waren und uns sahen, erschraken über unseren martialischen Auftritt. Unsere Ausrüstung gab diesen bedrohlich schweren Metallklang von sich. Einige liefen davon. Ich erinnerte mich an Tanja, mit der ich etwa ein Jahr lang zusammengewohnt hatte. Sie hatte einmal, als wir in der Küche unser Abendessen vorbereiteten, einen Katalog möglicher Aktivitäten munter aus ihrem Mund sprudeln lassen. Wenn man all ihre Forderungen übersetzte, lauteten sie: Geh hinaus, jag den Säbelzahntiger und den Mammut, ich warte hier in der Höhle auf dich, erziehe die Kinder, koche das Mahl, nähe die Felle zusammen – in der Nacht haben wir dann Sex.. „Schlechter Plan“, dachte ich.
Das Innere des Tempels, den wir schließlich aufsuchten – unbeschreiblich der Ekel, der uns überfiel. Die steinernen Wände und grässlichen Götzen waren beschmiert worden mit einer Flüssigkeit, von der wir annahmen, dass es Blut sein musste. Dieser furchtbare Braunton, den die getrocknete Substanz angenommen hatte und der an Fäkalien erinnerte. Der widerliche, süß-faulige, durchdringende Mülldeponiengeruch. Einige von uns mussten sich übergeben. Das Dunkle, Verschattete des Tempels, der keine Fenster hatte, dafür zwei quadratische Dachöffnungen, die genau hinter dem Chefmonstergötzen etwas Morgenlicht hereinließen, was den schrecklichen Eindruck verstärkte, dass diese Götter auf das Leben der Menschen hungrig waren. Unser Ekel, unsere Wut, unsere Entschlossenheit, das alles zu zerstören.
Am Nachmittag kamen ein paar Männer in unser Haus. Sie trugen feine, graue Anzüge, aber ihre Gesichter waren die von Bubis. Sie hatten allerdings keine Schwierigkeit, besonders männlich aufzutreten – und ergo selbstbewusst zu wirken. Mich erinnerten sie eher an jenen Typus von Medienyuppies, den es überall auf der Welt gibt – und den ich immer ein bisschen verachtet habe. Diese waren eine mexikanische Version davon. Begleitet wurden sie von einem hageren, würdig aussehenden Indianer. Sie erklärten, das sei der Schauspieler, der den gefangenen Aztekenkönig darstellen würde – und nachdem sie sich mit uns ein wenig geplaudert und etwas getrunken hatten, verschwanden sie. Wir gaben dem freundlichen König, der etwa Mitte vierzig sein musste, ein Zimmer. Und nach dem Mahl, das er ohne uns einnehmen musste (er war ja schließlich unser Gefangener), unterhielt ich mich mit ihm im Beisein von zwei Kameramännern und der hübschen Dolmetscherin. Ich weiß nicht, ob er seine Rolle so spielte wie vorgesehen, denn er erzählte von seinem Leben vor der Amateurschauspielerei. Vielleicht übersetzte das junge Mädchen auch schlecht.
Jedenfalls berichtete er, dass er vor seinem Königsdasein Reporter einer Internetzeitung in Mexiko-City gewesen sei. Unter anderem sei das Besondere an dieser Zeitung gewesen, dass der Chef einem Tick gefolgt sei. Ihm hätte der richtige Sound einer Redaktion gefehlt. Das Klackern der Tastatur und das Handyläuten hätten in seinem Sinne keine originale Geräuschkulisse einer arbeitenden Zeitungsredaktion abgegeben. Deshalb habe er Lautsprecher an die Wände montiert, aus denen dann leise das Klappern von Schreibmaschinen, das Telefonläuten alter Apparate und gelegentlich beschäftigt wirkende Stimmen rieselten.
Ich war ein wenig irritiert über die Anekdote und erinnerte ihn daran, dass er ein Gefangener der spanischen Krone sei. Doch nicht in echt, entgegnete er lächelnd.
„Solange diese Kameras auf uns gerichtet sind, ist alles echt“, sagte ich mit Nachdruck. „Megaecht!“
Mit der hübschen Dolmetscherin flirtete ich nachher im Innenhof. Ich hatte während der Verhandlungen mit dem Reporterkönig – so nannte ich ihn nun - eigentlich nur an sie gedacht. Paquita beäugte uns. Ich konnte ihr ansehen, dass sie eifersüchtig war. Wenn ich behaupte, ich hätte nicht ahnen können, was uns am nächsten Morgen erwartete, so entspricht das nur zum Teil der Wahrheit, denn ich kannte ja das Drehbuch. Doch das der Aufstand der Einheimischen so gewaltig sein und sich gegen ihren eigenen König richten würde, hatte ich – was die Dimension der Gewalt angeht – nicht erahnt. Zunächst hatten wir die Menge mit gezielten Musketenschüssen davon abhalten können, unser Haus zu stürmen. Jedoch war der heftige Ausbruch des Aufruhrs dadurch nur aufgeschoben worden – und als die Wut der Leute zunahm, sahen wir uns gezwungen, den König aufs Dach zu bringen, damit er von dort aus sein Volk beschwichtigt. Doch erstaunlicherweise bewarfen sie ihn mit echten Steinen, was mir wie nicht abgesprochen erschien. Er wurde verletzt – und als wir ihn in seinem Zimmer verarzteten, heulte er. Aber die Leute hatten sich offensichtlich abreagiert. Außer ein paar grimmigen Soldaten – jeder von ihnen mit diesem prächtigen Federn geschmückt - war draußen niemand.
Bis dahin mein Bericht. Morgen werden wir in Flössen über die Lagunenanlage aus der Stadt flüchten. Unsere Taschen sind prall gefüllt mit falschem Schmuck und noch falscherem Gold. Wie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine kleine Seeschlacht auf den großen Lagunensee verwickelt werden. Wir sind dementsprechend aufgeregt – aber auch ein wenig von den Strapazen erschöpft. Ich erhielt am Abend einen Anruf von dem Produktionsleiter, der erklärte, dass die Zuschauerquote erfreulich rauf gegangen sei – und er ergänzte, eine Frau habe mehrmals angerufen, um mir mitteilen zu lassen, sie sei sehr stolz auf mich.

Unter dem Himmelsdach des Gegenpapstes

Sicherlich, auch diese seit Monaten andauernde Auseinandersetzung zwischen den Truppen des Gegenpapstes und den alliierten Verbänden kann man als einen ganz gewöhnlichen Krieg bezeichnen. Und während ich in letzter Zeit morgens mein Brot in die Zinktellermulde mit der Milch stippe, denke ich häufig, von außen betrachtet ist dieses von aristokratischen Gehirnen ausgeklügelte Hauen und Stechen nichts anderes als die Ritterrüstungsbegegnung vor den florentinischen Stadtmauern oder der Grabenkrieg vor den zerschossenen Toren der belgischen Kleinstadt Ypern. Doch jeder Krieg ist anders, kennt andere Mütter, andere Väter, andere Brüder.
Man wird mich wahrscheinlich für wunderlich halten (oder auch nicht), gerade weil ich erzählen möchte, dass ich diesen Krieg in vielerlei Hinsicht für besonders interessant halte. Das ist dann erläuterungsbedürftig. Zum Beispiel verursacht der Krieg, an dem ich – nüchtern betrachtet - nur peripher teilnehme, Störungen der Befindlichkeit, die ich für wert betrachte, aufgezeichnet zu werden. Alles geht rückwärts – so auch mein Empfindungsapparat, von dem ich annahm, er sei vernunftgesteuert. Und auch die Uhren scheinen ihre Drehrichtung geändert zu haben.
Morgens, nach gerade mal vier bis sechs Stunden unruhigem Schlaf, verspüre ich zwar in letzter Zeit den schmierigen Wunsch, als Soldat zu kämpfen, sogar in der vordersten Reihe, und den Heldentod zu sterben, obwohl ich weiß, dass es keinen Heldentod gibt. Aber das ist nicht eine Folge der Regression, die mich umgibt. Die Realität scheint wie ein Spiegel, den ein Stein getroffen hat. In den Scherben sehe ich das gedämpfte Kerzenlicht einer Abendmesse. Eine Erklärung für den Wandel fällt mir einigermaßen schwer.
Ich bin der Arzt Osorio Camaphen, ich kämpfe um das Leben der im Lazarett schwer verwundeten Soldaten. Bei dem Anblick in dem großen Zelt mit seinen zahllosen Betten und den weißgewandeten Krankenschwestern ertappe ich mich bei ungewöhnlichen Gedanken. Das Nicht-Leben als Vorhandensein innerhalb des Daseins muss ein Möglichkeitsprodukt des Teufels oder eines Gottes sein. Früher habe ich selten so etwas gedacht, da bin ich mir sicher. Vielleicht bin ich von dem um sich greifenden Katholizismus aber schon längst infiziert.
Dieser Krieg hat in zweierlei Hinsicht etwas Absurdes. Zu Beginn mutete er – nun ja, das Bild ist etwas extravagant, das gebe ich zu – wie ein Pinguin an, der vor einem Supermarkt steht und dir, gerade weil du zufällig und arglos an ihm vorbeigehen willst, eine Ananas mit den Worten andreht, dies sei eine goldene Statue des Gottes der Tolteken. Jetzt scheint dem Krieg jede weltliche Note genommen worden zu sein, als wäre er aus einem Kreuzgang heraus zum Lobe Gottes entschieden worden.
Vor ein paar Monaten hatte der Präsident der UNO noch erklärt, dass dieser Krieg deswegen notwendig sei, weil er jeden Teilnehmer in ein moralisch überlegenes Wesen verwandeln würde. Aber was er natürlich gemeint hatte, war, dass der Krieg dazu diente, dass die Überlebenden sich eine goldene Nase verdienen könnten. Deswegen habe ich den Dienst angetreten. Jetzt scheint in das Kriegsgeschehen die – jedenfalls von mir bisher unterschlagene – überirdische Glorie Jesus’ hineinzuleuchten.
Das eben Angeführte erklärt jedoch nichts.
Vielleicht erklärt der Umstand, warum der Gegner sich auf einen Mann beruft, der sich als Gegenpapst bezeichnet, etwas besser die Gründe dieses Krieges. Der Papst ist als solches keine politisch bedeutende Gestalt mehr wie zu früheren Zeiten. Könnte man meinen. Doch jetzt sitzen wir hier – immerhin Teilnehmer aus mehreren Nationen, in diesem georgischen Morast und kämpfen gegen die Truppen von einem Mann, der sich selbst als der Gegenpapst bezeichnet.
Ich und meine Kollegen haben unterschiedliche Theorien dazu entworfen.
Theorie Nummer eins besagt, dass der Name Gegenpapst ein Produkt der Medien ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist er eine schlaue Erfindung einer Nachrichtenredaktion. Nachdem die muslimischen Terroristen sich selber zu Selbstmörderasche gebombt hatten, musste für den georgischen Aufstand ein neuer Name her. Und da der Anführer bisher völlig unbekannt blieb - er hat weder Gesicht noch Namen, gab ihm die Kreativabteilungen eines Fernsehsenders die zündende Bezeichnung: Der Gegenpapst.
Der Theorieentwurf Nummer zwei geht davon aus, dass wir die Rolle des Papstes beim Weltpoker um die Verteilung der Güter und höheren Dinge vollkommen unterschätzen. Wenn es also einen mächtigen Strippenzieher im Vatikan gibt, der nach außen hin wie der Engel der Weisheit wirkt, muss es einen ebenso mächtigen Gegenspieler geben. Dieser muss für die Majorität der Menschheit im Finsteren oder zumindest Unsichtbaren hausen, um von dort aus sichtbare Dinge in die Wege der unterschiedlichen Weltwirklichkeiten zu leiten. Die These kommt natürlich denjenigen entgegen - das war mir und meinen Kollegen klar, die einen Hang zu Verschwörungstheorien haben. Wir klammerten allerdings diesen Aspekt aus – und vertieften die Problematik. Es kann ja nicht sein, dass der georgische Gegenpapstes mit seinen bis in die Haarwurzel motivierten Rebellen nur deshalb eine Armee, die sich aus den Kontingenten mehrerer Nationen speist, in Atem hält, weil es ihn nicht gibt. Es muss ihn geben. Existiert er nicht, dann ist selbst der Präsident der UNO eine von Fernsehstationen erdachte Figur.
Die dritte Theorie finde ich ebenfalls einigermaßen beunruhigend. Wir meinen zwar in einem Zeitalter zu leben, in dem alle technischen Errungenschaften um uns herum funktionierend und dienend summen, piepsen, blinken und leuchten. Der Apparatursegen ist aber im Großen und Ganzen eine Täuschung. In Wirklichkeit leben wir noch zu Zeiten der mächtigen Päpste und ihrer Gegenspieler. Wir haben uns seitdem nicht vom Fleck bewegt. Unsere Technik erweist sich als Illusion. Und wir behandeln diese wie ein Bild aus der Realität.
Selbstverständlich verfügen solche Debatten, die während unserer gemeinsamen Brotzeiten mit Verve geführt werden, bei aller Erkenntnishelligkeit auch über dunkle Flecke. Und sie sind nur Hypothesen. Wie mir später erst auffiel - ich war gerade dabei, eine Verwundung eines Patienten mir anzuschauen, der sich erfreulicherweise auf dem Wege der Besserung befand, hatten wir bei der Erstellung der letzten These den Katholizismus nicht miteinbezogen. Und ich fragte mich plötzlich, was das eigentlich sei?
Natürlich weiß ich, was der Katholizismus ist, wenngleich ich nicht weiß, wie er sich anfühlt. Meine nun schon recht betagte Mutter ist beispielsweise Katholikin – und gelegentlich erzählt sie mir, dass sie ein wenig in der Bibel läse und sogar bete, was mich jedes Mal ein wenig überrascht (Vor mir hat sie sich nie zu religiösen Handlungen hinreißen lassen). An jenem Nachmittag fiel mir zum wiederholten Male ein, dass sie mir bewusst eine katholische Erziehung erspart hatte und der Grund hierfür sehr einfach gewesen war. Sie hatte als Kind, wie sie von Zeit zu Zeit betonte, „die schreckliche Erfahrung der Beichte“ gemacht. Die Funktion der Beichte, so dachte ich jetzt darüber nach, hatte eine problematische Seite für das Kind gehabt. Es musste sich eine Sünde ausdenken: Ich habe Bonbons vom oberen Küchenregal gestohlen, ich habe schlecht über meine Geschwister gedacht. So in etwa. Sie wollte nicht, dass ich in die Situation käme, jemanden anlügen zu müssen.
Seit ich hier bin, beobachte ich die sterbenden Soldaten, wie ihre trockenen Lippen ein Gebet stammeln. Oder sie flüstern nach der abwesenden Mutter. Ihr Glaube und ihre Rituale wirken jedoch auf mich heidnisch, als sei ich Katholik. Auch meinen Kollegen scheinen sich damit zu beschäftigen. Zwar eher durch Andeutungen hat einer der Ärzte seine Verwunderung zum Ausdruck gegeben, dass die Farbigen zum Beispiel sich zum Gottesdienst träfen, um zu singen und zu tanzen, was ja aufgrund der Kenntnisse, die wir über ihre Tradition haben, eigentlich kaum Erstaunen auslösen kann. Aber seine vagen Äußerungen gingen in eine Richtung, die eine Haltung zu Tage förderte, die an einen Plantagenbesitzer aus den Südstaaten erinnerte, der zu verstehen gibt, das Gott es nicht gerne sieht, dass seinetwegen getanzt und gesungen wird.
Ich bin woanders, dachte ich dann, wenn ich allein war und mir die Augenbrauen rieb. Zu Beginn meiner Dienstzeit nahm ein niederländischer Leutnant mich und ein paar Kollegen zu einem Frontabschnitt mit. Wenngleich in solcherlei Maßnahme die etwas gnädig-arrogante Demonstration von Öffentlichkeitsarbeit in den Vordergrund zu stehen schien, war nicht zu übersehen, dass die militärische Führung über den musischen Charakter stolz war, der ihrer Kriegsausrüstung im selben Maße wie der Kampfführung zugrunde lag. Eine spektakulär lange Reihe bauchiger Kanonenrohre vor einem freien Feld, die mit markerschüttertem Getöse auf die von unserem Standpunkt nicht auszumachenden feindlichen Linien schoss, entlockte unserem Führer ein stolzerfülltes Lächeln.
Nachdem dieser eher akustisch betäubende Teil der Demonstration seinen Abschluss gefunden hatte, kamen dreimannhohe Roboter zum Einsatz, die in ihren Händen Kugeln hielten, als wollten sie damit die gegnerische Partei vom Schlachtfeld kegeln. Indes ich noch über diese aparte Strategie nachsann, wurden sie vom raucheingehüllten Horizont fast verschluckt und ferner Lärm schien daraufhin die Fortführung der Kampfhandlungen zu bestätigen. Der Leutnant zeigte nach oben. In niedriger Höhe flog eine Armada von Flugzeugen, die wie monströs überzüchtete Bienen aussahen – auf dem Weg, eine sommerliche Wiese mit einem Angriff zu überraschen. Sie bedeckten den unschuldig blauen Himmel.
Wie diese Schlacht ausgegangen ist, ob die Alliierten oder die Rebellen des Gegenpapstes sie für sich entscheiden haben können, vermag ich nicht sagen. Die Zeitungen, die wir bekommen, behaupteten, wir hätten gesiegt. Doch wir sitzen immer noch hier. Und in letzter Zeit hören wir immer wieder Gerüchte über eine überwältigend neue Taktik, in der die neueste Entwicklung von Katapulten und Armbrusten im Mittelpunkt steht. Selbstverständlich schenkt man nicht jedem Gerede Gehör.
Jedoch in den letzten Tagen geriet ich in einen Zustand, in dem ich an meiner Wahrnehmung zweifeln musste. Als ich vorgestern Morgen das Lazarett verließ, bemerkte ich, dass die Soldaten, gleichwohl sie in der Regel zu den jüngeren Jahrgängen gehören, etwas Auratisches verströmten, das mich an die Atmosphäre von Schulhöfen erinnerte. Die vertraute militärische Zucht unterband zwar einen entsprechend unzulässigen Lärmpegel, doch ihre Gesichter unter den Schirmmützen verriet unangenehme Unreife. Auch die Patienten wirkten einerseits verjüngt, ihre schweren Verletzungen waren andererseits die alten geblieben. Ein nicht zu lösender Anachronismus, wie ich feststellen musste, dass in den Betten meinem Erachten nach Leute im vorpubertären Alter lagen, während das Lazarettpersonal – von der Krankenschwester bis zum Chefarzt – diesbezüglich weder große noch kleine Sprünge vor- wie rückwärts gemacht hatte.
Zugleich sprach ich mit einigen Kollegen darüber, die diese Entwicklung für eine Bestätigung unserer vor ein paar Tagen erörterten dritten Theorie hielten und sich keineswegs darüber beunruhigt zeigten. Ich umso mehr, auch weil sie sich am Ende des Gesprächs bekreuzigten und sich von mir in einer Sprache verabschiedeten, die eindeutig Latein war. Die nächsten Stunden konnte ich oft nur einen Satz denken. Etwas holt mich ein. Der Gedanke, über die Möglichkeit eines Antrags auf Beurlaubung zur verfügen, beruhigte mich dann.
Gestern trat ich mit einem solchen Vorhaben in das Büro des Abteilungsleiters, was allerdings die Verwirrung vermehrte. Er war durch ein von mir verfasstes Schriftstück von dem Gesuch vorab informiert worden und wollte diesem ohne jede Probleme entgegenkommen. Die Irritation entstand aber, als er einen Vogelfederkiel aus der Schreibtischschublade hervorholte und in ein silberfarbenes Tintenfass tauchte, um meinen Antrag mit seiner Unterschrift gutzuheißen. Mit einem Seitenblick gewahrte ich, dass auf einen Stuhl ordentlich gefalzt ein Kleidungsstück lag, das ganz wie eine Franziskanerkutte anmutete.
Beinahe wäre ich schwach geworden und hätte ihn auf die staunenswerten Veränderungen aufmerksam gemacht, denen offensichtlich alle folgen. Warum ich darauf verzichtete, lag wohl daran, dass ich plötzlich glaubte, alles zu verstehen. Draußen schaltete ich mein Handy an und egal welche Nummer ich wählte, ich erhielt keine Verbindung. Ich folgerte daraus, dass aller Wahrscheinlichkeit nach dieser Krieg erst von den Befehlshabern in der Heimat, dann von den Kommentatoren und schließlich von der Bevölkerung für unerheblich betrachtet worden war. Seit geraumer Zeit musste er also in Vergessenheit geraten sein – und wir mit ihm. So war zum Beispiel der Rückgriff auf antiquierte Waffengattungen vielleicht Ausdruck eines akuten Materialnachschubsmangels. Vielleicht aber handelte es sich um eine göttliche Inszenierung, deren Regieanweisungen wir befolgten, ohne zu wissen, dass wir Teilnehmer eines Bühnenstücks waren.
Die Panzer, die ich auf Feldwiesen stehen sah, wirkten wie Geräte im Stadium der Endverwertung. Die Soldaten zerlegten sie mit Schweißgeräten in ihre Einzelteile. Vor einem Zelt dagegen grasten Pferde. Einige Schritte davon entfernt befanden sich Männer, die eindeutig mit der Anprobe von Ritterrüstungen beschäftigt waren. Aber waren das überhaupt ausgewachsene Männer? Ich war zu weit weg, um es genau sehen zu können. Hinter einem Lagerzaun stand jedenfalls eine Kompanie stramm und sang eine fröhliche Weise. Ein Knabenchor hätte nicht heller singen können.
Ich sagte mir, dass ich von meinem Bericht unbedingt einen Ausdruck brauchte, bevor man den Strom abschaltet und die Computer einschmilzt, um aus ihnen Pfeilspitzen zu gewinnen. Im Lazarett erblickte ich Soldaten, offenbar vertieft in das Verfassen von Briefen. Was meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte, war, dass sie nicht von links nach rechts schrieben, sondern umgekehrt. Auch schrieben sie von unten nach oben. Ich schaute einem über seine Schulter. Sein Stift folgte der Schrift, aber statt zu schreiben, löschte er die Sätze. Buchstabe um Buchstabe verschwand. Sie reinigten mit dieser Technik jede Seite.
Ich ging in mein Zimmer, druckte meinen Bericht aus, las ihn durch, ergänzte ihn, las ihn noch mal durch. Ich war aufgewühlt, konnte mich nicht konzentrieren. Dabei hätte ich Reisevorbereitungen treffen müssen. Ich blickte aus dem Fenster zum unbefleckten Himmel ohne Flugzeuge und Satteliten. Da traf es mich wie ein Blitz. Voller Freude sank ich auf die Knie und vertiefte mich in ein Gebet.