Donnerstag, 5. März 2009

Unter dem Himmelsdach des Gegenpapstes

Sicherlich, auch diese seit Monaten andauernde Auseinandersetzung zwischen den Truppen des Gegenpapstes und den alliierten Verbänden kann man als einen ganz gewöhnlichen Krieg bezeichnen. Und während ich in letzter Zeit morgens mein Brot in die Zinktellermulde mit der Milch stippe, denke ich häufig, von außen betrachtet ist dieses von aristokratischen Gehirnen ausgeklügelte Hauen und Stechen nichts anderes als die Ritterrüstungsbegegnung vor den florentinischen Stadtmauern oder der Grabenkrieg vor den zerschossenen Toren der belgischen Kleinstadt Ypern. Doch jeder Krieg ist anders, kennt andere Mütter, andere Väter, andere Brüder.
Man wird mich wahrscheinlich für wunderlich halten (oder auch nicht), gerade weil ich erzählen möchte, dass ich diesen Krieg in vielerlei Hinsicht für besonders interessant halte. Das ist dann erläuterungsbedürftig. Zum Beispiel verursacht der Krieg, an dem ich – nüchtern betrachtet - nur peripher teilnehme, Störungen der Befindlichkeit, die ich für wert betrachte, aufgezeichnet zu werden. Alles geht rückwärts – so auch mein Empfindungsapparat, von dem ich annahm, er sei vernunftgesteuert. Und auch die Uhren scheinen ihre Drehrichtung geändert zu haben.
Morgens, nach gerade mal vier bis sechs Stunden unruhigem Schlaf, verspüre ich zwar in letzter Zeit den schmierigen Wunsch, als Soldat zu kämpfen, sogar in der vordersten Reihe, und den Heldentod zu sterben, obwohl ich weiß, dass es keinen Heldentod gibt. Aber das ist nicht eine Folge der Regression, die mich umgibt. Die Realität scheint wie ein Spiegel, den ein Stein getroffen hat. In den Scherben sehe ich das gedämpfte Kerzenlicht einer Abendmesse. Eine Erklärung für den Wandel fällt mir einigermaßen schwer.
Ich bin der Arzt Osorio Camaphen, ich kämpfe um das Leben der im Lazarett schwer verwundeten Soldaten. Bei dem Anblick in dem großen Zelt mit seinen zahllosen Betten und den weißgewandeten Krankenschwestern ertappe ich mich bei ungewöhnlichen Gedanken. Das Nicht-Leben als Vorhandensein innerhalb des Daseins muss ein Möglichkeitsprodukt des Teufels oder eines Gottes sein. Früher habe ich selten so etwas gedacht, da bin ich mir sicher. Vielleicht bin ich von dem um sich greifenden Katholizismus aber schon längst infiziert.
Dieser Krieg hat in zweierlei Hinsicht etwas Absurdes. Zu Beginn mutete er – nun ja, das Bild ist etwas extravagant, das gebe ich zu – wie ein Pinguin an, der vor einem Supermarkt steht und dir, gerade weil du zufällig und arglos an ihm vorbeigehen willst, eine Ananas mit den Worten andreht, dies sei eine goldene Statue des Gottes der Tolteken. Jetzt scheint dem Krieg jede weltliche Note genommen worden zu sein, als wäre er aus einem Kreuzgang heraus zum Lobe Gottes entschieden worden.
Vor ein paar Monaten hatte der Präsident der UNO noch erklärt, dass dieser Krieg deswegen notwendig sei, weil er jeden Teilnehmer in ein moralisch überlegenes Wesen verwandeln würde. Aber was er natürlich gemeint hatte, war, dass der Krieg dazu diente, dass die Überlebenden sich eine goldene Nase verdienen könnten. Deswegen habe ich den Dienst angetreten. Jetzt scheint in das Kriegsgeschehen die – jedenfalls von mir bisher unterschlagene – überirdische Glorie Jesus’ hineinzuleuchten.
Das eben Angeführte erklärt jedoch nichts.
Vielleicht erklärt der Umstand, warum der Gegner sich auf einen Mann beruft, der sich als Gegenpapst bezeichnet, etwas besser die Gründe dieses Krieges. Der Papst ist als solches keine politisch bedeutende Gestalt mehr wie zu früheren Zeiten. Könnte man meinen. Doch jetzt sitzen wir hier – immerhin Teilnehmer aus mehreren Nationen, in diesem georgischen Morast und kämpfen gegen die Truppen von einem Mann, der sich selbst als der Gegenpapst bezeichnet.
Ich und meine Kollegen haben unterschiedliche Theorien dazu entworfen.
Theorie Nummer eins besagt, dass der Name Gegenpapst ein Produkt der Medien ist. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist er eine schlaue Erfindung einer Nachrichtenredaktion. Nachdem die muslimischen Terroristen sich selber zu Selbstmörderasche gebombt hatten, musste für den georgischen Aufstand ein neuer Name her. Und da der Anführer bisher völlig unbekannt blieb - er hat weder Gesicht noch Namen, gab ihm die Kreativabteilungen eines Fernsehsenders die zündende Bezeichnung: Der Gegenpapst.
Der Theorieentwurf Nummer zwei geht davon aus, dass wir die Rolle des Papstes beim Weltpoker um die Verteilung der Güter und höheren Dinge vollkommen unterschätzen. Wenn es also einen mächtigen Strippenzieher im Vatikan gibt, der nach außen hin wie der Engel der Weisheit wirkt, muss es einen ebenso mächtigen Gegenspieler geben. Dieser muss für die Majorität der Menschheit im Finsteren oder zumindest Unsichtbaren hausen, um von dort aus sichtbare Dinge in die Wege der unterschiedlichen Weltwirklichkeiten zu leiten. Die These kommt natürlich denjenigen entgegen - das war mir und meinen Kollegen klar, die einen Hang zu Verschwörungstheorien haben. Wir klammerten allerdings diesen Aspekt aus – und vertieften die Problematik. Es kann ja nicht sein, dass der georgische Gegenpapstes mit seinen bis in die Haarwurzel motivierten Rebellen nur deshalb eine Armee, die sich aus den Kontingenten mehrerer Nationen speist, in Atem hält, weil es ihn nicht gibt. Es muss ihn geben. Existiert er nicht, dann ist selbst der Präsident der UNO eine von Fernsehstationen erdachte Figur.
Die dritte Theorie finde ich ebenfalls einigermaßen beunruhigend. Wir meinen zwar in einem Zeitalter zu leben, in dem alle technischen Errungenschaften um uns herum funktionierend und dienend summen, piepsen, blinken und leuchten. Der Apparatursegen ist aber im Großen und Ganzen eine Täuschung. In Wirklichkeit leben wir noch zu Zeiten der mächtigen Päpste und ihrer Gegenspieler. Wir haben uns seitdem nicht vom Fleck bewegt. Unsere Technik erweist sich als Illusion. Und wir behandeln diese wie ein Bild aus der Realität.
Selbstverständlich verfügen solche Debatten, die während unserer gemeinsamen Brotzeiten mit Verve geführt werden, bei aller Erkenntnishelligkeit auch über dunkle Flecke. Und sie sind nur Hypothesen. Wie mir später erst auffiel - ich war gerade dabei, eine Verwundung eines Patienten mir anzuschauen, der sich erfreulicherweise auf dem Wege der Besserung befand, hatten wir bei der Erstellung der letzten These den Katholizismus nicht miteinbezogen. Und ich fragte mich plötzlich, was das eigentlich sei?
Natürlich weiß ich, was der Katholizismus ist, wenngleich ich nicht weiß, wie er sich anfühlt. Meine nun schon recht betagte Mutter ist beispielsweise Katholikin – und gelegentlich erzählt sie mir, dass sie ein wenig in der Bibel läse und sogar bete, was mich jedes Mal ein wenig überrascht (Vor mir hat sie sich nie zu religiösen Handlungen hinreißen lassen). An jenem Nachmittag fiel mir zum wiederholten Male ein, dass sie mir bewusst eine katholische Erziehung erspart hatte und der Grund hierfür sehr einfach gewesen war. Sie hatte als Kind, wie sie von Zeit zu Zeit betonte, „die schreckliche Erfahrung der Beichte“ gemacht. Die Funktion der Beichte, so dachte ich jetzt darüber nach, hatte eine problematische Seite für das Kind gehabt. Es musste sich eine Sünde ausdenken: Ich habe Bonbons vom oberen Küchenregal gestohlen, ich habe schlecht über meine Geschwister gedacht. So in etwa. Sie wollte nicht, dass ich in die Situation käme, jemanden anlügen zu müssen.
Seit ich hier bin, beobachte ich die sterbenden Soldaten, wie ihre trockenen Lippen ein Gebet stammeln. Oder sie flüstern nach der abwesenden Mutter. Ihr Glaube und ihre Rituale wirken jedoch auf mich heidnisch, als sei ich Katholik. Auch meinen Kollegen scheinen sich damit zu beschäftigen. Zwar eher durch Andeutungen hat einer der Ärzte seine Verwunderung zum Ausdruck gegeben, dass die Farbigen zum Beispiel sich zum Gottesdienst träfen, um zu singen und zu tanzen, was ja aufgrund der Kenntnisse, die wir über ihre Tradition haben, eigentlich kaum Erstaunen auslösen kann. Aber seine vagen Äußerungen gingen in eine Richtung, die eine Haltung zu Tage förderte, die an einen Plantagenbesitzer aus den Südstaaten erinnerte, der zu verstehen gibt, das Gott es nicht gerne sieht, dass seinetwegen getanzt und gesungen wird.
Ich bin woanders, dachte ich dann, wenn ich allein war und mir die Augenbrauen rieb. Zu Beginn meiner Dienstzeit nahm ein niederländischer Leutnant mich und ein paar Kollegen zu einem Frontabschnitt mit. Wenngleich in solcherlei Maßnahme die etwas gnädig-arrogante Demonstration von Öffentlichkeitsarbeit in den Vordergrund zu stehen schien, war nicht zu übersehen, dass die militärische Führung über den musischen Charakter stolz war, der ihrer Kriegsausrüstung im selben Maße wie der Kampfführung zugrunde lag. Eine spektakulär lange Reihe bauchiger Kanonenrohre vor einem freien Feld, die mit markerschüttertem Getöse auf die von unserem Standpunkt nicht auszumachenden feindlichen Linien schoss, entlockte unserem Führer ein stolzerfülltes Lächeln.
Nachdem dieser eher akustisch betäubende Teil der Demonstration seinen Abschluss gefunden hatte, kamen dreimannhohe Roboter zum Einsatz, die in ihren Händen Kugeln hielten, als wollten sie damit die gegnerische Partei vom Schlachtfeld kegeln. Indes ich noch über diese aparte Strategie nachsann, wurden sie vom raucheingehüllten Horizont fast verschluckt und ferner Lärm schien daraufhin die Fortführung der Kampfhandlungen zu bestätigen. Der Leutnant zeigte nach oben. In niedriger Höhe flog eine Armada von Flugzeugen, die wie monströs überzüchtete Bienen aussahen – auf dem Weg, eine sommerliche Wiese mit einem Angriff zu überraschen. Sie bedeckten den unschuldig blauen Himmel.
Wie diese Schlacht ausgegangen ist, ob die Alliierten oder die Rebellen des Gegenpapstes sie für sich entscheiden haben können, vermag ich nicht sagen. Die Zeitungen, die wir bekommen, behaupteten, wir hätten gesiegt. Doch wir sitzen immer noch hier. Und in letzter Zeit hören wir immer wieder Gerüchte über eine überwältigend neue Taktik, in der die neueste Entwicklung von Katapulten und Armbrusten im Mittelpunkt steht. Selbstverständlich schenkt man nicht jedem Gerede Gehör.
Jedoch in den letzten Tagen geriet ich in einen Zustand, in dem ich an meiner Wahrnehmung zweifeln musste. Als ich vorgestern Morgen das Lazarett verließ, bemerkte ich, dass die Soldaten, gleichwohl sie in der Regel zu den jüngeren Jahrgängen gehören, etwas Auratisches verströmten, das mich an die Atmosphäre von Schulhöfen erinnerte. Die vertraute militärische Zucht unterband zwar einen entsprechend unzulässigen Lärmpegel, doch ihre Gesichter unter den Schirmmützen verriet unangenehme Unreife. Auch die Patienten wirkten einerseits verjüngt, ihre schweren Verletzungen waren andererseits die alten geblieben. Ein nicht zu lösender Anachronismus, wie ich feststellen musste, dass in den Betten meinem Erachten nach Leute im vorpubertären Alter lagen, während das Lazarettpersonal – von der Krankenschwester bis zum Chefarzt – diesbezüglich weder große noch kleine Sprünge vor- wie rückwärts gemacht hatte.
Zugleich sprach ich mit einigen Kollegen darüber, die diese Entwicklung für eine Bestätigung unserer vor ein paar Tagen erörterten dritten Theorie hielten und sich keineswegs darüber beunruhigt zeigten. Ich umso mehr, auch weil sie sich am Ende des Gesprächs bekreuzigten und sich von mir in einer Sprache verabschiedeten, die eindeutig Latein war. Die nächsten Stunden konnte ich oft nur einen Satz denken. Etwas holt mich ein. Der Gedanke, über die Möglichkeit eines Antrags auf Beurlaubung zur verfügen, beruhigte mich dann.
Gestern trat ich mit einem solchen Vorhaben in das Büro des Abteilungsleiters, was allerdings die Verwirrung vermehrte. Er war durch ein von mir verfasstes Schriftstück von dem Gesuch vorab informiert worden und wollte diesem ohne jede Probleme entgegenkommen. Die Irritation entstand aber, als er einen Vogelfederkiel aus der Schreibtischschublade hervorholte und in ein silberfarbenes Tintenfass tauchte, um meinen Antrag mit seiner Unterschrift gutzuheißen. Mit einem Seitenblick gewahrte ich, dass auf einen Stuhl ordentlich gefalzt ein Kleidungsstück lag, das ganz wie eine Franziskanerkutte anmutete.
Beinahe wäre ich schwach geworden und hätte ihn auf die staunenswerten Veränderungen aufmerksam gemacht, denen offensichtlich alle folgen. Warum ich darauf verzichtete, lag wohl daran, dass ich plötzlich glaubte, alles zu verstehen. Draußen schaltete ich mein Handy an und egal welche Nummer ich wählte, ich erhielt keine Verbindung. Ich folgerte daraus, dass aller Wahrscheinlichkeit nach dieser Krieg erst von den Befehlshabern in der Heimat, dann von den Kommentatoren und schließlich von der Bevölkerung für unerheblich betrachtet worden war. Seit geraumer Zeit musste er also in Vergessenheit geraten sein – und wir mit ihm. So war zum Beispiel der Rückgriff auf antiquierte Waffengattungen vielleicht Ausdruck eines akuten Materialnachschubsmangels. Vielleicht aber handelte es sich um eine göttliche Inszenierung, deren Regieanweisungen wir befolgten, ohne zu wissen, dass wir Teilnehmer eines Bühnenstücks waren.
Die Panzer, die ich auf Feldwiesen stehen sah, wirkten wie Geräte im Stadium der Endverwertung. Die Soldaten zerlegten sie mit Schweißgeräten in ihre Einzelteile. Vor einem Zelt dagegen grasten Pferde. Einige Schritte davon entfernt befanden sich Männer, die eindeutig mit der Anprobe von Ritterrüstungen beschäftigt waren. Aber waren das überhaupt ausgewachsene Männer? Ich war zu weit weg, um es genau sehen zu können. Hinter einem Lagerzaun stand jedenfalls eine Kompanie stramm und sang eine fröhliche Weise. Ein Knabenchor hätte nicht heller singen können.
Ich sagte mir, dass ich von meinem Bericht unbedingt einen Ausdruck brauchte, bevor man den Strom abschaltet und die Computer einschmilzt, um aus ihnen Pfeilspitzen zu gewinnen. Im Lazarett erblickte ich Soldaten, offenbar vertieft in das Verfassen von Briefen. Was meine Aufmerksamkeit auf sie lenkte, war, dass sie nicht von links nach rechts schrieben, sondern umgekehrt. Auch schrieben sie von unten nach oben. Ich schaute einem über seine Schulter. Sein Stift folgte der Schrift, aber statt zu schreiben, löschte er die Sätze. Buchstabe um Buchstabe verschwand. Sie reinigten mit dieser Technik jede Seite.
Ich ging in mein Zimmer, druckte meinen Bericht aus, las ihn durch, ergänzte ihn, las ihn noch mal durch. Ich war aufgewühlt, konnte mich nicht konzentrieren. Dabei hätte ich Reisevorbereitungen treffen müssen. Ich blickte aus dem Fenster zum unbefleckten Himmel ohne Flugzeuge und Satteliten. Da traf es mich wie ein Blitz. Voller Freude sank ich auf die Knie und vertiefte mich in ein Gebet.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen