Mittwoch, 15. Juli 2009

Dein gebremstes Verlangen

Glück und Unglück haben eine Eigenschaft gemeinsam: Sie demütigen ihre Kunden.

Thomas Capulet, Vom Gück des Unwissens, Frankfurt 1997

Liebe Ulrike,

ich kann wahrhaftig behaupten, dass ich frohen Gemütes aus Berlin weggezogen bin, wobei mir selbstverständlich die Trennung, welche nun verhindert, Dein süßes Gesicht wie früher in meinen Händen zu halten, mir manche Stunde sehr erschwert. Beste Freundin, die du immer warst und immer bleiben wirst, du wirst Dich sicherlich fragen, wie es mir seit unserem letzten Wiedersehen ergangen ist, wie ich nun hier im stillen Fulda - in der Nähe der schönen Rhön – mein Leben verbringe. Natürlich arbeite ich noch in meinem alten Beruf, gleichwohl jede journalistische Lohnarbeit bedrängende Fragen, wie zum Beispiel die, was das Herz des Menschen sei, unbeantwortet lässt.
Dich zu verlassen, die ich so sehr liebe, ist mir schwer gefallen; und im Taxi, wenn kein Fahrgast meine traurigglückliche Ruhe unterbricht, höre ich immer ein altes Lied, das in der schönen Zeile „With the wheels in your heart“ mündet.
Liebste, von der ich mich unzertrennlich glaubte, natürlich bin ich trotz der mich umgebenden Einsamkeit der Ironie noch fähig – gerade bezüglich dieses Liedes, das in seiner Schlussmetapher einen durch ein verwundetes Herz rollenden Reifen erwähnt. Mein Leben rollt auf solchen Reifen davon – in einer Stadt, durch die ich des Nachts kreuz und quer fahre, mit Arbeitern der hiesigen großen Gummifabrik als Fahrgästen, allesamt trunken, allesamt auf so absichtlich kleine Weise traurig, weil sie das große Kneipenglück mit ihrem süßen Bier, das aus ihren müden Mäulern später in mein Taxiinneres dampft, nicht fanden. Ich weiß die Ironie des Schicksals zu schätzen, herzliebste Ulrike, dass sie alle tagsüber in der Reifenproduktion arbeiten, während Du weiterhin ungebremst durch mein wundes Herz fährst.
Trotzdem bin ich froh, Dein Glück, welches Du an der Seite des großen Dichters genießt, nicht zu stören, ebenfalls darüber froh, dass er auf seine alten Tage so etwas Junges und Schönes wie Dich erfolgreich umworben hat, denn beides, das ja eigentlich eins ist, erklärt mir hinlänglich meine Situation. In einer Welt des Geldes ist es mir nicht möglich, Dein Herz mir zu verdienen.
Zeitungen werden von knauserigen Verlegern geführt - auch die von Fulda. Wie du ein Monopol auf meine Gefühle beanspruchen darfst, beherrscht ein Zeitungszar mit seinen Druckereibetrieben die Gegend – und schafft damit eine Medienmonokultur.
Ich muss über meinen einen Arbeitgeber, der mich schlecht entlohnt, manchmal lachen - auch wenn das Lachen wegen der Erinnerung an Dich anderen schwer getrübt erscheinen muss; ich muss lachen, weil ich in eine so absurde Medienlandschaft hineingeraten bin, die wahrscheinlich typisch für die Provinz ist: Altbundesrepublikanischer Gutsherrenjournalismus, der eine quasi sozialistisch-totalitäre Färbung hat – aber eben ohne Gefängnis, Strafe und Wahnsinn. Mal abgesehen von mir, leben alle gut mit solch einer Situation.
Selbstverständlich berichtet auch die „Fuldaer Zeitung“ von den Spaziergängen, die Du mit dem alten Schriftsteller unternimmst. Selbstverständlich wurde auch hier sein Roman „Ein liebender Mann“, der ja eure Liebe thematisiert, ausführlich besprochen. Meine Kollegen vom Feuilleton halten ihn ja alle für einen großen Dichter und rühmen ihn in ihren Artikeln, dass das mir Herz bricht und sich die Sprache verweigert. Sie kennen nicht die Worte, zu denen ich fähig bin, wenn ich Deiner gedenke. Sie wissen nichts von den Bildern, die ich in mir trage, die Deine Abwesenheit erzeugt.
Du wirst folgendes verstehen, was ich Dir nun schreiben werde: In den Augen meiner Kollegen - wüssten sie von meinem Drama - wäre ich eine Flasche Mineralwasser, er dagegen bliebe ein Ozean. Ich wäre ein Wegwerffeuerzeug, er dagegen bliebe ein Vulkan. In ihren Augen schleudert er mit Blitzen und kämpft mit Riesen. Ich fahre dagegen am Wochenende mit einem Taxi durch eine schlafende Stadt und kutschiere Männer in die Kneipen und Bordelle. Ich weiß, dass sie alle den großen Knall suchen, den Augenblick des überlauten Selbstaufpralls erleben wollen, den kleinen Unfall, der sie einen Moment lang hinter den Mond führt, wo die Schatten warten.
Ich soll - wirst du wahrscheinlich nach der Lektüre dieses Briefes mir mitteilen wollen - zu mir selbst kommen. Doch wo du nicht bist, wirft Deine Abwesenheit einen Schatten auf mein Dasein, das zweigeteilt bleiben muss ohne Dich. Vielleicht spiele ich deswegen den Chauffeur, um mein umnachtetes Ich spazieren zu fahren? Es braucht Bewegung, wenngleich diese eine Illusion ist. Vielleicht bewege ich mich gern in einem Milieu, das rein gar nichts von Dir und den Liebesbedürfnissen der Dichterfürsten weiß? Einmal, während wir alle von der Tatenlosigkeit gebeugt auf Kundschaft am Hauptbahnhof warteten, riss ein Kollege mir das Buch, das ich gerade zur Erfrischung Deines Andenkens las, aus den Händen. „Marienbader Elegie“, las er laut vor. Es klang aber wie: „Dieter Bohlen beleidigt Beckenbauer.“ Dann sagte er: „Ach, das ist hübsch. Das reimt sich ja.“ Liebste Ulrike, versteh das nicht als Denunziation – in dem Sinne: Sieh nur den dummen, ungebildeten Taxifahrer, den Affen niederer Technik, den Analphabeten in der Wüste der Ignoranz. Man muss die Szene mit selbst zerstörerischer Aufrichtigkeit beschreiben. Ich fühlte das demütigende Gefühl der Erleichterung, dass keiner etwas von Dir und dem Großschriftsteller weiß. Hier war mein Wissen endgültig Ohnmacht. Hier war mein sozialer Abstieg für jeden, der fähig ist, Genugtuung zu empfinden, sichtbar.
Während Du in den letzten Monaten mir stets der Himmel bliebst, befuhren meine Kollegen und ich die Untergrundbahnen im nächtlichen Gewölbe, in das die Stadt nach einem Tag in ihrer hellen Kuppel versank. Manche von ihnen, liebe Ulrike, spielen dabei gerne den oberschlauen Ganoven und hamstern Fahrten ohne Uhr ein, was aber jeder – gleichgültig seines Schlauheitsgrad – tut. Ihr Getue - Resultat des Glaubens, durchtrieben zu sein - geht aber noch weiter. Manche rufen von ihrem Handy die Zentrale an und bestellen für den, der momentan als erster auf der Auftragsliste der Zentrale steht, eine Fahrt nach weit außerhalb. So werden sie auf schäbige Weise den Kollegen - beziehungsweise den Futterkonkurrenten - los.
Ihre Gespräche reichen von den früheren Zeiten, als in Fulda noch die amerikanischen Soldaten stationiert waren und man sich als Taxifahrer eine goldene Nase verdienen konnte, bis zu der redundanten, kanonisierten Taxifahrererzählung von der tollen Fahrt nach Frankfurt, Offenbach oder Erfurt. So wie es früher bei den Beduinen immer wieder Topoi narrativ leicht veränderter Erzählkultur im erlebnisarmen Raum zwischen Wüste und Lagerfeuer gab, erzählen meine Kollegen immer wieder die gleichen Geschichten: Wie es ein Pärchen auf den Rücksitz mit allerlei verdächtigem Geräusch trieb; wie sturzbesoffene Fahrgäste durch ununterbrochen aggressives Lallen den Taxifahrer in eine kurze, aber dafür umso intensivere Nervenkrise stürzten; wie man ein absolut größenwahnsinniges Trinkgeld von einem Geschäftsmann erhielt; wie man Krankenfahrten mit wirklich übel riechenden Patienten, die in asozialen Verhältnissen hausten, übernahm, weil kein krankenkassefinanzierter Krankenwagen den Käsegeruch des sich ankündigenden Todes mittransportieren wollte; wie Fahrgäste, die in ihrem wirklichen Leben am Tag als Angestellte so viel Macht haben wie ein Fussel, ihre unterdrückte Herrschsucht frei wirbelnd freien Lauf ließen und mit dem Taxifahrer um die angeblich kürzeste Route erbittert stritten; und wie man die tschechische Prostituierte von ihrer schweren Nachtarbeit nach Hause fuhr und später von ihrem Flamingozungenparfüm mehrmals träumte. Liebe Ulrike, dieser Job ist kein Abenteuer, er ist die Hölle.
Allerherzliebste! Du sollst aber kein Mitleid mit mir und meiner selbstverschuldeten Situation haben. Wie du es sicherlich schon erahnst, habe ich meine Leiden in ein überflüssiges Manuskript von beträchtlicher Länge hineingießen können. Sieh es mir nach, aber ich werde dem Konvolut, bevor ich es dem Parzeller-Verlag anbiete (der unter anderem der Eigentümer der „Fuldaer Zeitung“ ist), den Titel „Ein Mann, überfüllt von Hassgefühlen“ verleihen. So lange ich noch auf die Veröffentlichung warte, die meinen Weltruhm begründen wird, höre ich das traurige Lied in meinem Taxi, das von den Reifen erzählt, die in meinen Herzen die Spuren Deines gebremsten Verlangens hinterließen.

Dein Dich immer liebender G.

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